Welche Lücken und Versäumnisse haben den Terrorakt im Sommer 2024 in Solingen begünstigt? Im Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags gibt es vernichtende Kritik an Asyl- und Abschiebepraxis.
Mehrere Sachverständige haben im Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags zum Solinger Terroranschlag eklatante Missstände bei Asylverfahren und Abschiebungen aufgezeigt. Der Leipziger Bundesverwaltungsrichter und Düsseldorfer Rechtsprofessor Martin Fleuß sagte, Defizite des deutschen und des europäischen Migrationsrechts hätten, neben weiteren Faktoren, „den Boden für den Anschlag von Solingen bereitet“. Sie könnten „jederzeit für die Verübung weiterer Anschläge vergleichbarer Art ausgenutzt werden“.
Bleiben oder Rückkehr: widersprüchliche staatliche Signale
Der Konstanzer Rechtsprofessor Daniel Thym nannte beim Eintritt des Ausschusses in die Beweisaufnahme zahlreiche Hinderungsgründe für Rückstellungen. So sei es etwa kontraproduktiv, Asylbewerber dezentral unterzubringen, sagte der Europa- und Völkerrechtsexperte. Dies erschwere den Zugriff der Behörden.
Das Problem potenziere sich, wenn die Asylsuchenden in kleinen Einheiten untergebracht würden. „Warum sollten Asylbewerber eine Ausreisepflicht ernst nehmen, wenn der Staat bereits aktiv sich um ihr Bleiben kümmert?“ Fleuß sieht dagegen Vorteile in der dezentralen Unterbringung.
Experte: „Überall Sand im Getriebe“
Das mutmaßlich islamistisch motivierte Messer-Attentat vom vergangenen August in der Solinger Innenstadt wirft aus Thyms Sicht ein Schlaglicht auf strukturelle Defizite bei den sogenannten Dublin-Überstellungen in eigentlich zuständige andere europäische Staaten. In vielen Fällen gebe es einen „kalten Boykott des Dublin-Systems durch die Ersteinreiseländer“, stellte er fest.
„Dublin kann nicht funktionieren, weil das System von Designfehlern durchzogen ist.“ Überall gebe es „Sand im Getriebe – auch in NRW„.
Der früher in Münster lehrende Migrationsforscher Dietrich Thränhardt stellte fest, trotz des Drängens der leidtragenden Kommunen und Bundesländer seien die Asylverfahren in Deutschland in den vergangenen Jahren nicht schneller geworden.
Thym rechnete vor, wenn man das Asylverfahren und ein Klageverfahren gegen den Bescheid zusammenrechne, dauere es in Deutschland im Durchschnitt mehr als drei Jahre, bis es die theoretische Möglichkeit einer Abschiebung gebe – die in der Praxis allerdings oft fehlschlage. „Das ist absurd“, sagte der Jurist.
Der mutmaßliche Attentäter, der Syrer Issa Al H., hätte eigentlich schon 2023 den EU-Asylregeln zufolge nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Das scheiterte jedoch – auch, weil er zunächst in seiner Flüchtlingsunterkunft nicht angetroffen worden war.
Ausschuss soll Fehlverhalten und Lücken aufdecken
Am 23. August vorigen Jahres soll der Syrer dann auf einem Stadtfest in Solingen drei Menschen mit einem Messer getötet und acht weitere verletzt haben. Er sitzt unter Mordverdacht in Untersuchungshaft. Die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) hatte den Anschlag für sich reklamiert.
Der U-Ausschuss soll den Anschlag politisch aufarbeiten. Dabei geht es einerseits um mögliche Versäumnisse und Fehlverhalten der Landesregierung und beteiligter Behörden. Auch strukturelle Defizite im Hinblick auf Rückführungen und die Dublin-Überstellungen in andere EU-Länder, Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam sollen aber unter die Lupe genommen werden.