Nie fühlte sich die AfD mächtiger als jetzt. Ihre Vorsitzende Alice Weidel personifiziert das größere Selbstbewusstsein. Der neue Hauptgegner: die CDU.

Nie fühlte sich die AfD mächtiger als jetzt. Ihre Vorsitzende Alice Weidel personifiziert das größere Selbstbewusstsein. Der neue Hauptgegner: die CDU.

Da steht sie, auf der riesigen blauen Bühne der Sporthalle von Riesa, eingerahmt von schwarz-rot-goldenen Fahnen: Die erste und nunmehr offiziell gewählte Kanzlerkandidatin der AfD

Die Abstimmung war nicht geheim, die etwa 600 Delegierten wurden zum kollektiven Aufstehen bemüßigt, womit sich Gegenstimmen automatisch erübrigten. Wer will schon offen den Abweichler geben? 

Nun blickt Alice Weidel lächelnd vom Rednerpult auf die Menschen unter ihr hinab. Sie weiß, dass sie jetzt, an diesem Samstagmittag, dem Saal das geben wird, was er begehrt: die maximale Attacke, hart und extrem.

Alice Weidel skandiert das Wort Remigration

Dass die AfD-Vorsitzende die Gegendemonstranten, die vor der Halle stehen, einen „linken Mob“ aus „rot lackierten Nazis“ nennt, ist bloß die Ouvertüre. Sie hat Größeres vor. 

Die AfD, ruft Weidel, habe einen Plan. Und der erste Punkt dieses Plans laute: „Die Grenzen lückenlos schließen“, einfach „dicht“ machen – und danach „Rückführungen im großen Stil“.  Sie steigert ihre Lautstärke: „Wenn es Remigration heißen soll, dann heißt es eben Remigration!“ Dabei skandiert sie das letzte Wort: „RE-MI-GRA-TION!“ – so, als habe sie es nicht zuvor für lange Zeit abgelehnt. 

Der Applaus tost durch die Halle. Weidel schaut äußerst zufrieden. Mehr als elf ihrer fast 46 Lebensjahre ist sie inzwischen in der AfD. Seit sieben Jahren führt sie die Bundestagsfraktion, seit drei Jahren amtiert sie als Parteivorsitzende. Doch das hier, die Wahl zur Kanzlerkandidatin, ist ihr bislang größter Triumph, und den will sie offenkundig gebührend begehen.

„Nieder mit den Windrädern der Schande“

Wenn die AfD an der Macht sei, ruft sie, werde sie Steuern senken, die Atomkraftwerke und die Nordstream-Gaspipeline wieder anschalten – und, ganz klar, alle Klimasubventionen beenden. Dann schreit sie: „Wenn wir am Ruder sind, reißen wir alle Windkraftwerke nieder! Nieder, nieder mit den Windrädern der Schande!“ 

Jetzt tobt der Saal endgültig. Viele Delegierten stehen auf, rufen „Alice für Deutschland“ oder schwenken schwarz-rot-goldene Fahnen. Oder sie halten Pappherzen hoch, auf denen „Kanzlerin der Herzen“ steht.

Die Inszenierung erscheint ebenso perfekt wie der Moment. Sechs Wochen vor der Bundestagswahl steht die AfD bei mehr als 20 Prozent, nur die CDU liegt noch vor ihr. In Österreich steht FPÖ-Chef Herbert Kickl vor der Kanzlerschaft, in den USA wird Donald Trump ins Präsidentenamt eingeführt – und der Multimilliardär Elon Musk, mit dem Weidel sich zuletzt öffentlich über Hitler und Heizungsgesetz plauschte, überträgt den zweitägigen Parteitag live auf seinem sozialen Kanal X.

Die Konflikte bleiben der AfD erhalten

Doch es ist erst einmal nur ein Moment. Riesa zeigt, dass der Partei ihre Konflikte erhalten bleiben. Und die Widerstandskräfte gegen sie ebenso. 

Denn selbst wenn das ländliche Sachsen längst von der AfD dominiert wird, sind jene Delegierte, die keines der wenigen Hotelbetten in Riesa ergattern konnten, nur unter Schwierigkeiten zum Parteitag gelangt. Der Protest war früher aufgestanden, reiste mit Zügen und 200 Bussen, aus Leipzig, Dresden oder Berlin – und blockiert den Zugang zur Halle oder gleich zur Stadt.

Der erste Regionalzug, der kurz vor sechs Uhr in Riesa eintrifft, ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Strategie der Demonstranten ist so einfach wie effektiv: In kleinen und größeren Gruppen blockieren sie systematisch die Zufahrtswege nach Riesa. Sie setzen sich auf die Straßen und weigern sich, diese zu räumen. Die Hauptgruppe formiert sich am Bahnhof frühmorgens zu einem Demonstrationszug. 

Der Protest und das Pfefferspray der Polizei

Die Stimmung ist diszipliniert. Als ein Demonstrant einen Böller unter ein Polizeifahrzeug wirft, weisen ihn die eigenen Ordner zurecht: „Du bist hier nicht erwünscht!“

Insgesamt sind es wohl mehr als 10.000 Demonstranten. Obwohl ihnen tausende Beamte im Einsatz mit schwerem Gerät gegenüber stehen, beherrscht die Polizei die Lage nur bedingt.

Linke: Politiker in Riesa von Polizei bewusstlos geschlagen 17.15

Der Hauptdemonstrationszug wird auf halber Strecke stundenlang in der eisigen Kälte aufgehalten, ohne dass die Polizei kommuniziert, warum. Quer geparkte Einsatzwagen versperren den Weg, dahinter fahren Wasserwerfer auf. 

Das übliche Katz-und-Maus-Spiel beginnt. Einige Demonstranten aus dem schwarzen Block der Antifa versuchen den Ausbruch. Die Polizei holt sie ein, sprüht Pfefferspray, es gibt Verletzte auf beiden Seiten. Ein Linke-Politiker behauptet später, bewusstlos geschlagen worden zu sein. 

Dennoch können sich immer wieder kleinere Gruppen befreien. Sie springen über Zäune, rennen über matschige Felder. Am Ende landen sie alle irgendwie vor der Halle, in der die Versammlung erst mit zweistündiger Verspätung beginnen kann.

Chrupalla spricht von „Terroristen“

Es ist nach 12 Uhr, als Weidels Co-Vorsitzender Tino Chrupalla den Parteitag eröffnet – trotz der „Anti-Demokraten“ und „Terroristen“ auf den Straßen, wie er ruft. Dass sich am Protest sogar Gewerkschaften beteiligten hätten, sei „eine Schande“.

Doch der Protest, da gibt sich Chrupalla gewiss, werde nichts nützen.  „Wir sind die beste Partei Deutschlands“, sagt er, die sogenannte Brandmauer werde wie in Österreich fallen: „Wir kämpfen weiter mit Ausdauer und Geduld.“

Für den Co-Vorsitzenden ist es ein ambivalenter Auftritt. Er ist jetzt auch offiziell die Nummer 2 in der Partei, zumal seine Zweckgemeinschaft mit Weidel nur noch eingeschränkt harmoniert. In internen Runden reden die beiden nicht mehr gut übereinander. 

Zumindest vorläufig jedoch muss sich Chrupalla jetzt unterordnen. Also beschreibt er Weidels Kanzlerkandidatur als seine Idee. Er habe sie vorgeschlagen und durchgesetzt, sagt er, und er halte ihr „den Rücken“ frei. „Ich organisiere gerne von hinten.“

Ein kühl kalkuliertes Zweckbündnis

Mindestens bis zur Bundestagswahl wird das gelten. Aber es ist ein kühl kalkuliertes Zweckbündnis. Die Partei bleibt heterogen, personell, aber auch inhaltlich.

So ist in Riesa ist auch das Wahlprogramm zu beschließen, und darin finden sich viele umstrittene Punkte. Zum Beispiel die Wehrpflicht: Sie gehört zu den Uralt-Forderungen der Partei, bis sie auch auf Betreiben Chrupallas und einiger ostdeutschen Verbände aus dem Entwurf gestrichen wurde. Nun kommt sie doch wieder hinein.

Musk Weidel.   12.00

Und dann ist da noch die JA, die Junge Alternative, die sich besonders extrem gebärdet und inzwischen der Parteiführung nur noch als Last gilt. Mit einer Satzungsänderung soll die Organisation abgetrennt werden und stattdessen ein integrierter Jugendverband gegründet werden, ausgerechnet nach dem Vorbild der Jungen Union.

Erforderlich ist dafür eine Zweidrittelmehrheit. Die meisten Landesverbände unterstützen den Antrag, während Widerstand aus Brandenburg, Bayern und Nordrhein-Westfalen kommt – und Thüringen. 

Björn Höckes Einfluss und seine Grenzen

Der dortige Landeschef Björn Höcke hätte das Thema JA am liebsten vertagt. Die Sache sei „noch nicht abstimmungsreif“, sagte er zu Beginn des Parteitags dem stern. Es seien „noch nicht alle so mitgenommen worden, wie sie mitgenommen werden sollten“.

Doch nur wenig später kommt der Antrag zur Nichtbefassung nicht durch. Höcke hat verloren. Wie schon auf dem Parteitag im vorigen Sommer in Essen zeigt sich, dass er kaum noch Mehrheiten organisieren kann.

Das heißt aber nicht, dass Weidel keine Rücksicht mehr auf ihn nehmen muss. Als sie in ihrer Rede auf die CDU kommt und beklagt, dass diese bei der Wahl der Ministerpräsidenten in Dresden und Erfurt „mit Kommunisten“ paktiert habe, geht sie extra auf ihn ein. „Der echte Wahlsieger in Thüringen ist Björn Höcke“, ruft sie unter großem Beifall. „Da sitzt er!“

Überhaupt, die Union. Weidel spürt, wie die CDU unter Friedrich Merz ihre Themen zu besetzen versucht, ob nun bei der Migration oder der inneren Sicherheit. Der Vorstoß, Straftätern mit Doppelpass die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen, klingt ziemlich nach AfD.

Der Frontalangriff auf die CDU

Umso erbitterter greift die Kanzlerkandidatin die CDU als „Betrügerpartei“ an, während sie SPD und Grüne kaum erwähnt. Wo die Union regiere, etwa in Berlin, herrsche „queer-woker Wahnsinn“, während „Messermörder“ und „Silvesterbomber“ im Land bleiben dürften. 

Denn laut Weidel gibt nur eine Partei, die wirklich durchgreifen werde, auch an den Schulen und Universitäten. „Wir schließen alle Gender-Studiengänge und schmeißen die Professoren raus!“, ruft sie. „So!“

Das alles kommt von einer Frau, die mit einer anderen Frau, die aus Sri Lanka stammt, zwei Kinder in der Schweiz großzieht. Überkompensiert da die Kanzlerkandidatin einer Partei etwas, die nicht nur rechts und extrem, sondern auch latent rassistisch und homophob ist?

Immerhin wollen gleich zwei Anträge erreichen, dass im Wahlprogramm der Satz „Die Familie ist Keimzelle unserer Gesellschaft“ präzisiert wird. Danach soll eine Familie aus „Vater, Mutter und Kindern“ bestehen.