Nach dem tödlichen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Magdeburg haben die Ermittler erste Hinweise auf ein mögliches Motiv des Tatverdächtigen. Es könne in „Unzufriedenheit mit dem Umgang mit saudiarabischen Flüchtlingen“ in Deutschland liegen, sagte der verantwortliche Oberstaatsanwalt Horst Nopens am Samstag. Die Zahl der Todesopfer stieg auf fünf, darunter ein Kind. Mehr als 200 Menschen wurden verletzt, viele von ihnen schwer.
Am Vormittag besuchte Kanzler Olaf Scholz (SPD) den Anschlagsort gemeinsam mit Sachsen-Anhalts Regierungschef Reiner Haseloff (CDU). Scholz sprach von einer „furchtbaren, wahnsinnigen Tat“, die „zutiefst zu Herzen“ gehe. Seinen Worten zufolge sind fast 40 Menschen so schwer verletzt, „dass man große Sorge um sie haben muss“.
Der Kanzler sicherte Stadt, Opfern und Angehörigen „die Solidarität des ganzen Landes“ zu und würdigte den Einsatz der Rettungskräfte. Wichtig sei nun, „dass wir als Land zusammenbleiben, dass wir zusammenhalten, dass wir uns unterhaken, dass nicht Hass unser Miteinander bestimmt“, sagte Scholz. Es dürften nicht diejenigen durchkommen, „die Hass säen wollen“.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), die gleichfalls Magdeburg besuchte, appellierte, die Tat nicht für politische Ziele zu instrumentalisieren. „Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass die Tat nicht missbraucht wird – von keiner Seite“, sagte sie angesichts geplanter Kundgebungen rechter Gruppen.
Der mutmaßliche Täter Taleb A. war am Freitagabend direkt nach der dreiminütigen Amokfahrt über den Weihnachtsmarkt festgenommen worden. Der 50-Jährige stammt aus Saudi-Arabien, lebte seit 2006 in Deutschland und arbeitete hier als Arzt. „Er hat sich zum Tatmotiv geäußert“, sagte Oberstaatsanwalt Nopens am Samstag in Magdeburg. Daraus habe sich die Schlussfolgerung ergeben, dass das mögliche Motiv in „Unzufriedenheit mit dem Umgang mit saudiarabischen Flüchtlingen“ begründet sein könne.
Taleb A. hat öffentlich den Islam abgelehnt und sich über Jahre für Flüchtlinge aus Saudi-Arabien eingesetzt. In den vergangenen Jahren warf er dann zunehmend deutschen Behörden und der Polizei Behinderung oder Verfolgung vor.
Der „Spiegel“ berichtete unter Berufung auf sein Arbeitsumfeld, A. habe sich in seinen Aktivismus „hineingesteigert“ und deshalb nicht mehr arbeiten können. Zuletzt habe er sich zurückgezogen, sei unaufmerksam gewesen. Er sei aber nie aufbrausend oder wütend geworden. Seit Ende Oktober war A. demnach krankheits- und urlaubsbedingt nicht mehr im Dienst.
Taleb A. soll nun nach Abschluss der Vernehmungen in Untersuchungshaft genommen werden. Ihm wird laut Nopens derzeit fünffacher Mord vorgeworfen sowie 205 Mal versuchter Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Den Ermittlern zufolge ist unter den Toten ein neun Jahre altes Kind, die weiteren vier Toten seien Erwachsene.
Die Staatsanwaltschaft bekräftigte die Einschätzung, dass es sich bei A. um einen Einzeltäter handelte. Hinweise auf weitere Beteiligte gebe es nicht. Nopens sagte, die Ermittler sähen in der Tat einen Anschlag oder eine Amokfahrt. Von einem Terroranschlag spreche er nicht – sollte sich der Anschlag als Terror herausstellen, werde die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe die Ermittlungen übernehmen. Diese prüft den Fall seit Freitagabend.
Haseloff sprach angesichts der Toten und vielen Verletzten von einer „Dimension, die sich keiner von uns überhaupt vorstellen konnte“. Über Sicherheit müsse künftig „noch deutlicher“ geredet werden.
Die Stadt Magdeburg verteidigte ihr Sicherheitskonzept für den Weihnachtsmarkt. Dieses sei „nach bestem Wissen und Gewissen“ sowie in Absprache mit der Polizei verfasst worden, sagte der zuständige Beigeordnete Ronni Krug. Dass dem Tatverdächtigen offenbar keine Hindernisse auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt entgegenstanden, begründete Krug damit, dass der Weg als Rettungsgasse für Krankenwagen und Feuerwehr bei Notfällen vorgesehen war.
Am Abend fand im Magdeburger Dom ein Gedenkgottesdienst für die Opfer und Betroffenen statt, an dem neben Scholz und Haseloff auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier teilnahm.
Zahlreiche Städte und Bundesländer verschärften in der Folge des Anschlags die Sicherheitsmaßnahmen auf Weihnachtsmärkten. Absagen gab es nur vereinzelt. Der Deutsche Schaustellerbund sah darin auch „das falsche Zeichen“. Denn gemeinsames Feiern sei „ein Zeichen gelebter Demokratie und des friedlichen Miteinanders“.