In knappen Videos redet Klaus Willbrand über Dostojewski oder Kafka - und viele schauen zu. Im hohen Alter ist der Antiquar plötzlich zu einer Social-Media-Marke geworden. Blick auf ein Faszinosum.

In knappen Videos redet Klaus Willbrand über Dostojewski oder Kafka – und viele schauen zu. Im hohen Alter ist der Antiquar plötzlich zu einer Social-Media-Marke geworden. Blick auf ein Faszinosum.

Man scheut sich, den Begriff Influencer zu benutzen, wenn man vor Klaus Willbrand steht. Zum einen passt das Klischee so gar nicht. Klaus Willbrand hat weder superangesagte Klamotten an, noch fürchtet man, gleich von seinen Beauty-Routinen zu erfahren. Der 83-Jährige trägt langes, schlohweißes Haar und ein mittelbraunes Jackett mit großen Taschen. Zudem ist sein Thema ziemlich analog: alte Bücher. 

Und dennoch, das lässt sich kaum bestreiten, ist Klaus Willbrand nun ein Influencer. Auf Instagram hat er mehr als 100.000 Follower, auf Tiktok mehr als 40.000. Sie gieren nach seiner Meinung. „Wir sind selbst von unserem Erfolg überrascht“, sagt er leise. „Das hatten wir nicht so erwartet.“

Es ist eine der ungewöhnlichsten Social-Media-Karrieren der vergangenen Jahre, die der Antiquar hingelegt hat. Sein ganzes Leben hat er Literatur gewidmet. Seit mehr als 20 Jahren betreibt er sein Antiquariat in einer Nebenstraße von Köln. Ein Geschäft, das so vollgepfropft ist, dass der süßlich-erdige Geruch alter Bücher, den man aus Großvaters Arbeitszimmer kennt, unter der Ladentür bis auf die Straße kriecht. Eine Institution. Vor der Tür erzählt eine Frau allerdings, dass sie in den vergangenen Jahren immer wieder vorsichtig in das Geschäft gelugt habe. Nicht unbedingt immer, um etwas zu kaufen, so muss man sie verstehen. Sondern um zu schauen, ob Klaus Willbrand noch da ist. 

Kein irriger Gedanke. Anfang 2024 war er kurz davor, aufzuhören. Ein Antiquariat ist per se kein Geschäftsmodell, mit dem man schnell reich wird. Und zu diesem Zeitpunkt kam „nahezu niemand mehr“, wie Klaus Willbrand sagt. Bis – ja, bis er ein erstes Video für das Internet aufnahm. Es war an Karfreitag. Es folgte eine Art Auferstehung.

Welche drei Bücher sollte man gelesen haben?

Seitdem hat sich der Mann, den man sich auch gut in einer Harry-Potter-Verfilmung vorstellen könnte, auf Tiktok und Instagram zu einer Art Literaturpapst entwickelt. In seinen Videos sortiert er wie so viele Influencer die Welt in Listen ein. Ein Klassiker: Welche drei Werke sollte man gelesen haben. Willbrands Antwort: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Proust, „Ulysses“ von Joyce und „Der Prozess“ von Kafka. Typisch ist, dass der Antiquar dabei unverdächtig bleibt, sein Publikum schonen zu wollen. In einem Video wird er beispielsweise gebeten, die Werke von Dostojewski zu nennen, die man gelesen haben sollte. Um es zusammenzufassen: Teile der Antwort von Klaus Willbrand auf diese Frage können beunruhigen. Zumindest, wenn man nicht vorhat, den ganzen Tag zu lesen.

Aber das kommt super an. Und das hilft dem Laden. „Seit wir Tiktok und Instagram machen, kriegen wir extrem mehr Bestellungen“, sagt der Antiquar. Vor ihm liegt so eine: „Der rasende Roland“ von Ariost (1474-1533), geschrieben vor Hunderten von Jahren. Eher schwere Kost, könnte man meinen. Willbrand aber gerät darüber ins Schwärmen.

Er schätzt, dass er in seinem Leben ungefähr 6.000 Bücher gelesen hat. Um in einem Werk alles zu durchdringen, schmökert er nicht auf einem Sofa, sondern setzt sich an seinen Schreibtisch, oft mitten in der Nacht. Seit Jahrzehnten gehe er nicht vor drei Uhr ins Bett, sagt Willbrand. Ablenkung ist unerwünscht. „Eine Frage der Disziplin“, nennt er das. Man kann sagen: In seinem Kopf hat sich ein riesiger literarischer Schatz angehäuft.

Gehoben hat ihn eine Frau, die rund 50 Jahre jünger ist: Daria Razumovych. Sie hat als Lektorin in einem Verlag gearbeitet und auch in einer Agentur als Beraterin, unter anderem für Social Media. Mittlerweile ist sie selbstständig. Die beiden lernten sich vor einigen Jahren auf einem Antikmarkt kennen. Sie kaufte damals Bücher bei ihm. Man kam ins Gespräch.

„Der Laden lief nicht mehr“

„Es war immer sehr lehrreich, sich mit Herrn Willbrand zu unterhalten. Ich dachte: Dieses Wissen muss man irgendwo festhalten“, sagt Razumovych. Vor drei Jahren etwa habe sie ihm zum ersten Mal vorgeschlagen, Social Media auszuprobieren. „Zu diesem Zeitpunkt war sich Herr Willbrand aber noch sicher, dass er das nicht machen will.“ Vor einigen Monaten wagte sie einen neuen Versuch. „Diesmal war er sehr offen“, sagt sie. „Der Laden lief nicht mehr. Es gab nichts mehr zu verlieren.“

Razumovych filmt, Willbrand antwortet. So läuft das nun. Und es läuft gut. Durch die Kommentare zieht sich eine Bewunderung. Paradoxerweise scheint den Internet-Leuten besonders zu gefallen, dass der Antiquar eine Figur aus analogen Zeiten ist. Fokussiert statt abgelenkt. Nicht laut, aber kenntnisreich. Und – auch das in heutigen Zeiten ja durchaus ungewöhnlich – nicht zimperlich in seinen Urteilen. Wer bei Willbrand Meinung bestellt, bekommt sie auch. Etwa bei der Frage, welcher Schriftsteller am meisten überschätzt wird („Da muss ich ganz klar sagen: Hermann Hesse“).

„Die meisten Bücher lege ich nach der ersten Seite weg. Ich erkenne Qualität sehr schnell“, erklärt er. „Ich würde auch sagen, dass mindestens 50 Prozent der Leute, die heute Literatur schreiben, gar keine Schriftsteller sind. Die können das gar nicht. Da wird dann sehr viel individueller Kram aufgeschrieben, der aber gesellschaftlich nicht relevant ist.“

Er traut sich solche Sätze zu, weil er für sich in Anspruch nimmt, etwas von Literatur zu verstehen. Bei anderen Themen sei er eher vorsichtig mit seinen Urteilen. „Man sollte etwas von der Sache verstehen, bevor man den Mund aufmacht“, sagt Klaus Willbrand. Er ist eben kein typischer Influencer.