Psychisch Kranke dürfen laut Bundesverfassungsgericht bald auch außerhalb von Kliniken Zwangsbehandlungen unterzogen werden. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Psychisch Kranke dürfen laut Bundesverfassungsgericht bald auch außerhalb von Kliniken Zwangsbehandlungen unterzogen werden. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Gehören Sie auch zu den Menschen, die ihre Vorurteile gegenüber Psychiatrien dem Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ zu verdanken haben? Mir jedenfalls hat sich das Bild von Jack Nicholson tief eingeprägt, wie er von sadistischen Pflegern und Ärzten seiner Freiheit beraubt und schließlich durch einen chirurgischen Eingriff im Gehirn auf ewig in den Stumpfsinn versetzt wird. 

Albtraum Zwangsbehandlung

Der Film rührt an Urängste: Gegen seinen Willen in eine Klinik eingeliefert, fixiert und zwangsbehandelt zu werden, ist ein Albtraum. 

Gott sei Dank sind unwürdige Bedingungen in psychiatrischen Anstalten, wie sie bis Mitte des 20. Jahrhunderts oft vorherrschten, längst Geschichte. Patienten haben eine viel stärkere Stellung in dem System und die Therapiemöglichkeiten haben enorme Fortschritte gemacht. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ist ein bedeutendes Gut und die juristischen Hürden für Zwangseinweisungen und -behandlungen sind hoch: Nur wenn psychisch schwer kranke Menschen sich selbst oder andere akut gefährden, dürfen sie in Deutschland gegen ihren Willen in eine Psychiatrie eingewiesen und behandelt werden. Die Rechtmäßigkeit der Einweisung wird von einem Richter begutachtet. Und: Die Behandlungen dürfen nur in einer Klinik vorgenommen werden. Bislang.

Denn genau diese Regelung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom Dienstag gekippt.

Die Hürden für Zwangsbehandlungen haben eine schreckliche Kehrseite

Geklagt hatte der Betreuer einer an paranoider Schizophrenie erkrankten Frau, die regelmäßig mit einem Neuroleptikum zwangsbehandelt wurde. Der Betreuer wollte, dass die Patientin in ihrer Wohngruppe behandelt werden darf, da der Transport in die Klinik, bei dem sie teils fixiert wurde, immer wieder retraumatisierend für die Frau gewesen sei und sie beeinträchtige. Die Richter gaben dem Mann mehrheitlich recht. Künftig dürfen Patienten auch ambulant zwangsbehandelt werden. In England ist das übrigens bereits seit 2007 möglich.STERN PAID 46_24 Psychose 1200

Ich finde, das ist ein längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Das Urteil aus Karlsruhe bietet die Chance, das hochumstrittene Thema Zwangsbehandlung endlich aus der Tabuzone herauszuholen und es neu zu betrachten. Der Zwangsbehandlung vielleicht sogar etwas von der ungeheuren Dramatik zu nehmen, die unter anderem dem Ort, wo sie vorgenommen wird, geschuldet ist: den geschlossenen Stationen der Psychiatrie.

Die hohen Hürden für Zwangsbehandlungen haben nämlich eine schreckliche Kehrseite. Sie führen dazu, dass viele Menschen, die dringend medizinische Hilfe benötigen, keine erhalten und immer tiefer in den Wahnsinn abgleiten. Ich habe im Sommer selbst erlebt, wie eine Freundin plötzlich unter Wahnvorstellungen litt, nachts auf den Straßen herumirrte, den Kontakt zu ihrer Tochter abbrach und beinahe obdachlos geworden wäre. Da sie aber weder sich selbst gefährdete, noch auf andere losging, konnte ihre Tochter sie nicht gegen ihren Willen in eine Klinik bringen. Es war zum Verzweifeln. 

Die Verzweiflung der Angehörigen

Für Angehörige ist das Dilemma unerträglich. Sie sind meist der letzte Zufluchtsort der Erkrankten. Sie können nicht helfen, werden von Ärzten und Richtern im Stich gelassen, müssen es aber mit der Mutter, die von einem Verfolgungswahn geplagt wird, der Tochter, die unter Halluzinationen leidet, dem Mann, der überall Verschwörungen wittert, aushalten. Und hilflos mitansehen, wie die psychische Erkrankung – unbehandelt – chronifiziert, und die Liebsten ein Leben weit unter ihren Möglichkeiten führen. Das ist brutal.26: Bundesverfassungsgericht erlaubt Zwangsbehandlung von Betreuten auch ambulant – ddc8ab8bb8304dfc

Der Bayrische Landesverband der Angehörigen psychisch kranker Menschen organisiert Psychose-Seminare, in denen Eltern, Kinder, Geschwister, Ehepartner sich informieren und versuchen, einander zu helfen. Gemeinsam mit dem Bundesverband kämpft der Landesverband zudem für ein „Recht auf Behandlung“, auch gegen den Willen der Betroffenen. Denn Menschen, die psychotisch erkrankt sind, haben nicht das Gefühl, krank zu sein und Hilfe zu benötigen – im Gegenteil, sie lehnen sie ab und wehren sich dagegen, da sie oft sehr misstrauisch sind.

Chance auf einen großen Wurf

Bereits 2018 mahnte der Deutsche Ethikrat in einer Stellungnahme an, dass rechtliche Behandlungsmöglichkeiten geschaffen werden müssen, „bevor etwas passiert“, also bevor der Patient sich selbst oder anderen etwas antut. Und er forderte, die Definition von „Selbstschädigung“ zu erweitern. Bislang ist damit nur die körperliche Selbstverletzung gemeint oder der drohende Suizid. Aber auch der Abbruch von sozialen Beziehungen sei eine Schädigung, so der Ethikrat. 

Das würde die Schwelle zum Einschreiten senken, ja. Aber es könnte auch viel unnötiges Leid verhindern. Was es dazu braucht, sind Vertrauen, Mut und klare Regeln. Bis 2026 muss der Gesetzgeber die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes umsetzen. Das ist die Chance auf einen großen Wurf.