Beim Treffen der Ministerpräsidenten soll neben der Migrationspolitik wohl auch über eine legendäre Entscheidung gesprochen werden: den Asylkompromiss von 1993. Was dahinter steckt.

Beim Treffen der Ministerpräsidenten soll neben der Migrationspolitik wohl auch über eine legendäre Entscheidung gesprochen werden: den Asylkompromiss von 1993. Was dahinter steckt.

Warum machen wir es nicht wie in den Neunzigern? Diese Frage ist in der Diskussion um die Flüchtlingspolitik häufiger zu hören, auch Michael Kretschmer hat sie nun erneut aufgeworfen. Die Welt habe sich verändert, stellte Sachsens Ministerpräsident im „Tagesspiegel“ fest, folglich müsse sich auch das Grundrecht auf Asyl verändern. Ein Vorbild dafür könne der Asylkompromiss aus den Neunzigern sein. 

Gemeint ist die Neuregelung des Asylrechts, die am 26. Mai 1993 im Bundestag verabschiedet wurde und nun insbesondere vonseiten der Union als Beispiel dafür herangezogen wird, dass sich die Asylbewerberzahlen deutlich senken lassen. Sofern man – also die Ampel-Regierung – das denn wirklich will, schwingt da mit.  

Tatsächlich sind Ähnlichkeiten von damals zu heute vorhanden. Das gilt aber auch für eine Fehlannahme, die mit dem damaligen Konsens zwischen Koalition und Opposition verbunden war. 

Braucht es einen Asylkompromiss 2.0?

Dass Kretschmer jetzt ein Update des Asylrechts ins Spiel bringt, dürfte auch an einem besonderen Termin für Sachsens Landesvater liegen. Der CDU-Politiker hat turnusgemäß den Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz – im Fachjargon „MPK“ abgekürzt – übernommen und leitet die dreitägige Jahreskonferenz, die ab diesem Mittwoch in Leipzig stattfindet. Auf dem Programm der Regierungschefinnen und -chefs der Länder stehen etwa die Energiepreise, Hilfen für die Autoindustrie, aber auch die Migrationspolitik. 

Hier will Kretschmer einen Impuls setzen, über „neue Instrumente“ für mehr Rückführungen und eine bessere Integration mit seinen Kolleginnen und Kollegen sprechen. „Vor allem aber geht es um die Reduzierung der Zuzugszahlen“, betonte Kretschmer im Zeitungsinterview und lieferte auch eine für ihn gebotene Größenordnung mit. In den kommenden Jahren sollte die Anzahl der Asylbewerber eher bei 30.000 pro Jahr liegen, meint Kretschmer. Im laufenden Jahr haben knapp 200.000 Personen einen Asylantrag in Deutschland gestellt, davon 180.000 Erstanträge (im Zeitraum von Januar bis September). 

Ein Jahr Grenzkontrolle Artikel 12.10

Aus einer „Verständigung“ auf solch eine Reduzierung würden dann die entsprechenden Maßnahmen abgeleitet werden, sagte der CDU-Mann, der hier auch an die SPD-Ministerpräsidenten appelliert. Die hätten einen „verantwortungsvollen“ Blick auf die aktuelle Situation und seien viel näher an der Wirklichkeit als die SPD-Fraktion. Klammer auf: Der auch Bundeskanzler Olaf Scholz angehört und aus christdemokratischer Sicht zwar viel in der Flüchtlingspolitik angekündigt, aber nicht genug geliefert hat.

Also erneut ein Asylkompromiss wie in den Neunzigern? Angesichts steigender Asylbewerberzahlen und überlasteter Kommunen hatte sich damals die Koalition aus CDU und FDP mit der oppositionellen SPD zum Ziel gesetzt, Asylverfahren zu beschleunigen und einen „Asylmissbrauch“ zu verhindern. Durch eine Grundgesetzänderung schränkten sie den ursprünglich schrankenlosen Satz in Artikel 16 („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) ein, etablierten in Artikel 16a die Neuregelung des Asylverfahrensrechts. Es wurde die „Drittstaatenregelung“ eingeführt, wonach kein Anspruch auf Asyl besteht, wenn wer über ein EU-Land oder ein anderes Nachbarland Deutschlands einreist. Auch verloren Geflüchtete ihr Asylrecht, wenn sie aus „sicheren Herkunftsstaaten“ stammen, also Ländern, in denen ihnen keine Verfolgung oder unmenschliche Behandlung droht.

Die Zahlen sanken, aber…

Die Neuregelung sorgte für scharfe Kritik. Doch mit der damaligen Änderung des Asylrechts sank die Zahl der Antragsteller zunächst deutlich, so auch der Druck auf die Bundespolitik. Die Zahl der Abschiebungen stieg. Flankiert vom europäischen Dublin-Abkommen von 1990, das die Prüfung von Asylverträgen und die Hauptverantwortung praktisch an die EU-Außengrenzen verlagerte, schien die Sache für Deutschland erstmal erledigt. 

Das war die Fehlannahme. Denn der damalige Asylkompromiss konnte natürlich nichts daran ändern, dass es immer noch Geflüchtete gab – zu dem Zeitpunkt kamen nur weniger nach Deutschland. 

Nach den massiven Fluchtbewegungen aus den von Krieg gezeichneten Ländern Afghanistan und Syrien winkten die EU-Staaten an der Außengrenze – entgegen der Dublin-Regeln – die Geflüchteten auch nach Zentraleuropa durch, fühlten sie sich auch von Ländern wie Deutschland bei der Bewältigung des hohen Aufkommens alleingelassen. Das neue gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) sieht daher nun unter anderem eine solidarische Verteilung von Geflüchteten nach festgelegten Kriterien vor. Allerdings soll diese Neuregelung, Stand jetzt, erst 2026 zur Anwendung kommen. 

Polen Asylrecht_1503

National hat Deutschland die Regeln in der Asylpolitik daher schon mehrmals verschärft, zuletzt unter anderem Leistungskürzungen für Dublin-Flüchtlinge beschlossen. Auch auf Grenzkontrollen wird verstärkt gesetzt. Ob eine Art Artikel 16b, also weitere Neuregelung (respektive Verschärfung) des Asylrechtsverfahrens, den gewünschten Effekt erzielen würde, erscheint vor diesem Hintergrund fraglich. Längst wurde die Forderung in den Raum gestellt, das Individualrecht auf Asyl ganz abzuschaffen. Das würde jedoch dem Völker- und Europarecht widersprechen. Auch hier ist also nichts zu machen. 

Vielleicht hat Sachsens Ministerpräsident Kretschmer auch vor diesem Hintergrund den Asylkompromiss-Vorschlag mit einem Nebensatz verknüpft: „Wir müssen handeln und können uns den Asylkompromiss aus den Neunzigern zum Vorbild nehmen – mit umfassenden Zurückweisungen an den Grenzen.“ Letzteres hatte die Union zuletzt bei den Gesprächen zur Migrationspolitik mit der Bundesregierung eingefordert. Rechtlich und praktisch sind diese allerdings kaum möglich.