Die Grenze der USA zu Mexiko wird immer undurchdringlicher und Donald Trump hetzt immer unverhohlener gegen Migranten. Gail Kocourek versucht, Leben zu retten – mit Wasser.

Die Grenze der USA zu Mexiko wird immer undurchdringlicher und Donald Trump hetzt immer unverhohlener gegen Migranten. Gail Kocourek versucht, Leben zu retten – mit Wasser.

Sie erspäht die Männer als Erstes. Hoch oben auf einem Hügel auf mexikanischer Seite erkennt sie Bewegungen in den Büschen. Zunächst von einer Person, dann einer weiteren, schließlich von einer ganzen Gruppe, gekleidet in Tarnuniformen.

„Agua“, ruft sie laut auf Spanisch. „Agua, Agua, Agua. Wir haben Wasser und Essen.“

Gail Kocourek, 78, steht an der Mauer der US-mexikanischen Grenze in der Wüste Arizonas, 20 Kilometer entfernt vom nächsten Ort. Sie trägt ein rotes T-Shirt mit weißem Kreuz darauf und dem Aufdruck „Samariter“ und blickt durch ein Loch jener Mauer, die Ex-Präsident Donald Trump einst errichten ließ. In ihrem Wagen hält sie Wasserkanister parat, Lebensmittel, Medikamente, Wasserfilter. 

„Lebensrettende Dinge eben“, sagt sie beiläufig. „Ich habe in der Wüste schon hunderte Migranten retten müssen.“

Ihr Wasser rettet viele Leben

Die zehn Männer kommen näher und bleiben zunächst in einigen Metern Entfernung stehen. Sie checken die Lage. „Agua“, ruft Kocourek erneut, „habt keine Angst“ und reicht den Männern Wasserflaschen entgegen. Sie packen sie in Rucksäcke, und für einige Minuten kommt es zu einer Unterhaltung:

„Woher kommt ihr?“, fragt sie.

„Aus Mexiko, Guatemala, Honduras“, antworten sie.

„Aus Puebla“, sagt eine Frau, die sich als Mann verkleidet hat, „Puebla in Mexiko“.

„Wie lange seid ihr schon unterwegs?“

„Einige Wochen. Wir haben monatelang vergeblich auf einen Asyltermin gewartet. Jetzt gehen wir auf eigene Faust rüber.“

Kocourek stellt nun die Befragung ein. Sie will die Details nicht wissen. Sie behandelt alle gleich, Geflüchtete, Tagelöhner, egal ob sie Asyl beantragen oder illegal ins Land kommen.

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„Wohin wollt ihr?“, fragt der Reporter.

„Richtung Tucson. Wir kennen den genauen Weg nicht.“

„Mit Schleusern?“

„Einer hier kennt sich aus“, antwortet einer der Männer diplomatisch. 

„Ihr wisst, wie gefährlich es ist. Vier Tage durch die Wüste. Habt ihr genug Wasser?“

„Wir haben jeder zwei, drei Flaschen.“

Kocuorek reicht ihnen zwei Filter, die helfen sollen, Brack- und Regenwasser zu reinigen. „Suerte“ wünscht sie ihnen – viel Glück.

Vier Tage durch die Wüste – ein lebensgefährlicher Treck

Die Migranten gehen zurück auf die mexikanische Seite, um die Grenze weiter östlich, in einem schwer kontrollierbaren Gebiet zu überqueren. Dann liegen 60 Kilometer Fußmarsch durch die Sonora-Wüste vor ihnen, durch kalte Nächte und heiße Tage. Werden sie erwischt, wird die Grenzpolizei sie festnehmen, deportieren und mit einem Einreiseverbot strafen.

Infobox US-Wahl-NL

Gail Kocourek kommt seit mehr als zehn Jahren an diesen Grenzpunkt und an viele andere. Mehr als tausend Einsätze hat sie hinter sich. Tag für Tag fahren sie oder einer ihrer Kollegen von der Hilfsorganisation Tucson Samaritans ein Gebiet so groß wie Hessen ab, auf der Suche nach Flüchtenden, Überlebenden – und manchmal nach Leichen. Sie sieht es als humanistische Mission und wehrt sich gegen Kritik, dass sie Illegalen helfe, es ins Land zu schaffen.

„Erstens gibt es keine illegalen Menschen. Und zweitens kann keiner wollen, dass sie verdursten. Ich hoffe, dass wir uns darauf einigen können.“

Biden ließ sich in der Asylpolitik von seinem Gegner treiben – Donald Trump

Die Zahl der Migranten ist stark zurückgegangen. Kamen im Dezember 2023 noch bis zu 10.000 pro Tag über die 3000 Kilometer lange Grenze zwischen den USA und Mexiko, so sind es jetzt nicht mal mehr 2000 in der Woche.

Das liegt vor allem an den Maßnahmen der Biden-Regierung und an seinem Präsidentenerlass von Anfang Juni: Werden mehr als 2500 Asylbewerber pro Woche aufgegriffen, setzt automatisch ein zweiwöchiger Aufnahmestopp ein, bis die Zahlen wieder unter die Marke von 1500 fallen.

Tod in der Wüste: Ein einsames Kreuz markiert den Ort, an dem ein Migrant umkam
© Jan Christoph Wiechmann

In der Praxis kommt das einem Asylstopp gleich. Biden und Harris, konfrontiert mit schlechten Umfragewerten, sahen sich gezwungen, in der Migrationspolitik etwas radikal zu verändern. Ihre mit den Republikanern ausgehandelte Reform war vorher am Veto von Donald Trump gescheitert.

Der Ort, wo Träume sterben

„Für Migranten macht es das umso gefährlicher“, sagt Kocourek. „Viele stecken jetzt monatelang auf mexikanischer Seite fest. Sie sind den Drogenkartellen und Schutzgelderpressungen ausgesetzt, vor allem Frauen.“ Viele seien so verzweifelt, dass sie die Überquerung trotzdem versuchen. Aus Angst, erwischt zu werden, nähmen sie größte Risiken auf sich, überquerten die Grenze bei Nacht, allein, in Kleingruppen. Nur die Stärksten schaffen es noch.

„Haben Sie die Frau eben gesehen?“, fragt sie. „Sie sieht nicht so aus, dass sie in der Gruppe mithalten kann. Fällt sie zurück, kümmert sich keiner um sie. Sie wird verdursten. In der Nacht ist es eiskalt, in der Sonne mehr als 50 Grad, es gibt Klapperschlangen, Pumas. Mehr als 1600 Migranten sind hier gestorben. Und viele mehr, die aber nie gefunden wurden. Dies ist der Ort, wo Träume sterben.“ 

Kocourek blickt ins karge, bergige Inland. Ihre langen, weißen Haare wehen im trockenen Wind. Ihre Haut ist tief gebräunt nach zehn Jahren als Grenzgängerin, die Knie schmerzen, sie zieht das Bein nach. Bis zur Stadt Tucson sind es 100 Kilometer, bis zur nächsten Siedlung an der Road 86 sind es 70 Kilometer. Vier Tage zu Fuß. An einigen Stellen hat sie große Wasserkanister postiert, ausgestattet mit langen Stangen und gut sichtbaren Fahnen, um zu signalisieren: Hier gibt es Wasser.

Trump-Fans schießen auf Wasserkanister

Die größte Gefahr droht nicht von Grenzbeamten, sondern von „Vigilantes“, sogenannten Bürgerwehren – Trump-Fans, die Jagd auf Migranten machen. „Sie durchschießen die Kanister, damit das Wasser ausläuft“, sagt Kocourek. „Oder sie schütten Benzin rein. Darüber regt sich keiner auf.“

Wenn sie unterwegs ist, hält sie vor allem nach Geiern Ausschau. „Wo Geier kreisen, weißt du, da stirbt gerade ein Tier oder ein Mensch. Die Geier erzählen Dir, was in der Wüste passiert.“

Gail Kocourek steigt ins Auto und fährt den Grenzzaun entlang, der 35 Kilometer östlich der Siedlung Sasabe plötzlich endet. Hier will Trump weiterbauen, wenn er wiedergewählt wird. Insgesamt fehlen noch mehr als 2000 Kilometer. 

„Es wird nie gelingen“, sagt Kocourek. „Völlig ausgeschlossen. Die Menschen buddeln Löcher darunter und klettern drüber, sie brennen mit Schweißgeräten Löcher in die Mauer.“

Die Mauer ist löchrig – fast überall

Wie zum Beweis zeigt sie auf ein großes, etwa fünf Meter breites Loch. Insgesamt zählt sie 23 Öffnungen entlang der 35 Kilometer. Sie zeigt zudem auf Kleiderfetzen, die zusammengebunden wurden, um die Mauer zu überklettern.

„Die Mauer ist unendlich porös. Es ist ein Fass ohne Boden. Der Bau macht nur die Drogenkartelle reich, die bis zu 10.000 Dollar Wegezoll pro Migranten fordern. Ich habe gerade Inder getroffen, die 10.000 Dollar zahlen mussten. 5000 hier. 5000 Dollar bei Ankunft in Tucson.“

Sie nennt die Mauer „Amerikas Narbe“.

Wasser, Essen, Zelte – das Camp, das Gail Kocourek für Migranten errichtet hat
© Jan Christoph Wiechmann

Kocourek fährt weiter in ein kleines Grenzcamp ihrer Organisation, genannt „Little Havana“, weil hier einst so viele Kubaner Station machten. Es besteht aus einem Zelt, Pritschen, Vorräten von Wasser, Müsliriegeln, Energy-Drinks. „Hier sind Migranten aus Syrien durchgekommen, aus Guinea, dem Sudan, Bangladesch, Liberia, China“, zählt sie auf. „In dieser Woche hatten wir eine neue Nation: Albaner.“

07: USKandidat Trump Migranten bringen schlechte Gene in die USA – 422c2d890e980346

Derzeit sind fünf Migranten im Camp, ein Geschwisterpaar und eine Familie. Sie sind misstrauisch den Helfern gegenüber, haben sichtlich Angst. Sie sagen, dass sie vor Schutzgelderpressung geflohen seien. Sie kommen aus dem Bundesstaat Morelos, haben um einen Asyltermin gebeten, warten aber seit Monaten vergeblich darauf. „Wir konnten nicht länger warten“, sagt Eder, der Anführer.

Noch hat der Grenzzaun an vielen Stellen Löcher – die Donald Trump unbedingt schließen möchte
© Jan Christoph Wiechmann

Die Geflüchteten stecken jetzt alle in diesem Dilemma. Sie mussten weg aus ihrer Heimat, kommen aber nicht rein in die USA. „Es ballt sich gerade ganz viel Angst auf der anderen Grenzseite“, sagt einer mit Namen Canito.

„Wir wollen noch schnell vor Trump rein“, sagt Kari, seine Schwester. Sie haben alle mitbekommen, dass Trump Migranten „Mörder, Vergewaltiger, Terroristen“ nennt und davor warnt, dass sie „das Blut des Landes vergiften“.  

Wo Kartelle die Macht haben

Sie fährt rüber auf die andere Seite der Grenze, in das mexikanische Sasabe, eine Geisterstadt. Nach einem Krieg zweier Drogenkartelle vor einem Jahr flohen sämtliche Bewohner und kommen erst langsam wieder zurück. Ihr eigenes Hilfsbüro in Sasabe, „Casa de la Esperanza“, das Haus der Hoffnung, mussten die Tucson Samaritans schließen.

„Hier zerfällt alles“, sagt sie, als sie am Haus stoppt. Hunde streunen umher. Das Gras wächst durch die Gehplatten. Plastiktüten verfangen sich im Zaun. Fensterscheiben sind zerschlagen. Sie fährt schnell weiter, um in den gespenstisch verwaisten Straßen nicht auf ein Bandenmitglied zu stoßen. 

In der nächstgrößeren Grenzstadt, Nogales, sitzen derweil tausende Migranten fest. Nach Sasabe aber traut sich kein einziger. „Das ist das größte Problem hier“, sagt Kocourek. „Der Menschenschmuggel ist fest in der Hand der Drogenkartelle. Wollen Menschen allein über die Grenze, sabotieren die Gangs die Flucht. Sie zwingen Migranten zur Zahlung.“

Es dämmert, sie macht sich auf den Heimweg, drei Stunden bis Tucson, eine einsame Fahrt, bei der ihr kaum ein Auto begegnet. Nach einigen Kilometern wird sie von der Grenzpolizei angehalten, der Einheit K-9, die Hundestaffel. 

„Ach, du bist es Gail“, sagt der Mann. „Alles ruhig?“

„Alles ruhig“, antwortet sie.

Sie kennen sich gut. Sie schätzen sich. „Es ist eine Mär, dass wir hier alle verfeindet sind“, sagt Kocourek. „Die Grenzbeamten sind gute Kerle. Sie müssen sich halt an die Gesetze halten.“

Sie selbst ist einige Male verhört und beschuldigt worden, den „Illegalen“ zu helfen. „Es gibt kein Gesetz, das mir untersagt, Menschen zu helfen“, entgegnet sie dann. „Nur transportieren darf ich sie nicht. Habe ich trotzdem schon gemacht, in Notsituationen, wenn sie im Sterben liegen.“ Verhaftet wurde sie nicht. 

„Das Risiko gehe ich ein“, sagt sie, während sie auf dem langen, geraden Highway durch die sternklare Nacht fährt, immer dem erleuchteten Himmel von Tucson entgegen. „Ich bin fast 80. Soll ich meine Zivilcourage jetzt noch an der Haustür abgeben?“