In Sachsen und womöglich auch in Thüringen könnte die SPD zum ersten Mal aus einem bundesdeutschen Parlament fliegen. Ihre Strategie dagegen ist gewagt.
Kevin Kühnert trägt kurze Hosen, die Hemdsärmel hat er nach oben gekrempelt. Es sind knapp 30 Grad im Schatten und der Grill, auf dem die Gratis-Bratwürste gewendet werden, steht direkt neben ihm. Aber da muss der SPD-Generalsekretär jetzt durch.
Immerhin ist es der letzte Tag seiner Tour durch Thüringen. Er war in Greiz, Ronneburg, Themar, Ilmenau oder Altenburg. Jetzt, zum Finale, steht auf dem Wenigemarkt in Erfurt, in der Landeshauptstadt, wo das Landesparlament sitzt – und aus dem die SPD am 1. September rausfliegen könnte.
Die Landtagswahl, ruft Kühnert, sei keine „Abstimmung über den Weltfrieden“ und auch keine „Volksabstimmung über Berlin“. Die SPD streite für mehr Lehrer in den Schulen und kostenloses Essen in den Kindergärten. „Wir sind die Anti-Populisten“, sagt er. „Wir sind die, die ein langweiliges Angebot machen. Treffen Sie eine langweilige Wahlentscheidung!“
Klingt so Verzweiflung?
Es sieht jedenfalls gar nicht gut aus für die SPD in Thüringen. In den Umfragen steht sie inzwischen in den Umfragen auf 6 Prozent, Tendenz fallend. Im Nachbarland Sachsen, wo auch am 1. September der Landtag gewählt wird, sind es ebenfalls nur 6 Prozent. Das ist die Todeszone.
Selbst in der SPD gilt es längst nicht mehr als ausgeschlossen, dass die Partei im sich zuspitzenden Dreikampf zwischen CDU, AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zerrieben wird, und unter die 5-Prozent-Hürde rutscht. Dann wäre die Partei zum ersten Mal in der bundesrepublikanischen Geschichte nicht mehr parlamentarisch vertreten – und dies ausgerechnet in den beiden Ländern, in denen sie vor etwa 160 Jahren gegründet wurde.
Das ist dramatische Lage vor den Landtagswahlen. Fliegt die SPD aus einem oder gar zwei Parlamenten, werden sich die bekannten Fragen in noch größerer Dringlichkeit stellen. Ist Olaf Scholz, der unbeliebte Kanzler, noch der Richtige für die Bundestagswahl 2025? Und wird das noch was in der dysfunktionalen Ampel-Koalition? In Berlin könnte dann so einiges ins Rutschen geraten.
„Sonst sehe ich für Sachsen nicht nur schwarz, sondern auch blau“
Niemand dürfte diesen Druck mehr spüren als Petra Köpping. Nach der Wahl in Sachsen könnte sie als die Retterin der SPD dastehen – oder als diejenige, die ihre Partei in eine historische Blamage führte. Köpping ist Sozialministerin in der sächsischen Kenia-Koalition mit CDU und Grünen und darin auch für den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ zuständig. Nun, als SPD-Spitzenkandidatin, muss sie ihren eigenen Laden zusammenhalten.
Seit Monaten zieht sie mit ihrer Botschaft durch Sachsen. „Wir brauchen in Sachsen verlässliche Verhältnisse“, rief Köpping den Wahlkämpfern schon zu Beginn des Wahlkampfs auf einer Parteiveranstaltung in Leipzig zu. Nach der Kommunalwahl werde es nicht einfacher, mahnte Köpping, es stünde ja auch die Europa- und schließlich noch die Landtagswahl an.
Verlässliche Verhältnisse: Damit meint Köpping eine SPD, auf die sich in turbulenten Zeiten bauen lässt. „Sonst sehe ich für Sachsen nicht nur schwarz, sondern auch blau“, sagt Köpping, die Parteifarben von CDU und AfD vor Augen.
Bei den Europa- und Kommunalwahlen im Juni ist die Strategie schon mal nicht aufgegangen. Die Sozialdemokraten landeten hinter CDU und AfD – in Sachsen und Thüringen, aber auch in Brandenburg, wo die SPD den Ministerpräsidenten stellt. Hier wird am 22. September ein neuer Landtag gewählt.
STERN C Wahlerfolg AfD und BSW 18.36
Das Desaster besaß eine bittere Pointe. Denn selbst vom neuen BSW wird die SPD ausnahmslos überholt. Mehr als eine halbe Million früherer SPD-Wähler liefen bei der EU-Wahl zum Wagenknecht-Bündnis über, aus keiner anderen Partei lockte es mehr Menschen an. Mit ihrer Linksrechts-Kombination – sozialpolitisch links, gesellschaftspolitisch rechts – geht sie den Genossen an die eigene Substanz. Fängt mit ihrem populistischen Friedensbegriff enttäuschte Sozialdemokraten ein, die sich von ihrer Partei in der Ukraine-Politik einen deutlicheren Friedensakzent wünschen.
Kann da ein demonstrativ „langweiliges Angebot“, wie Generalsekretär Kühnert es macht, eine gewinnbringende Antwort sein?
Beim Tour-Finale in Thüringen übt sich der Generalsekretär in Zweckoptimismus. „Die Stimmung ist besser, als die Umfragen vermuten lassen“, sagt er in Erfurt dem stern. Die Nähe zur 5-Prozent-Hürde nutze die Partei eher als zusätzliche Motivation. Zudem sei es in den Gesprächen, die er mit den Wählern geführt habe, nur selten um Krieg und Frieden gegangen.
SPD unter Druck
Aber so einfach ist das nicht. Zum einen wird das Thema in Umfragen als wichtig angegeben. Zum anderen tun AfD und BSW alles, um es ins Zentrum der Debatte zu rücken.
So wie Olaf Scholz im Europawahlkampf gleichzeitig den Zeitenwende-Regierungschef und Friedenskanzler gab, versucht sich die SPD nun im Spagat. Das liest sich dann so wie im jüngsten Beschluss des Bundespräsidiums zur geplanten Stationierung von US-Raketen in Deutschland: „Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss.“ Die zusätzlichen Langstreckenwaffen seien „dafür ein wichtiger Baustein“.
Diplomatisches Gewicht aus militärischer Stärke – das mag die einzige Sprache sein, die der Kriegstreiber aus dem Kreml versteht. Doch sie vermag bei den Wählern in Ostdeutschland nicht recht verfangen. Der Kanzler erklärt seine weitreichenden Entscheidungen, wie zuletzt zu den Raketenplänen, in den Augen seiner Kritiker nur unzureichend. Möglicherweise in der Absicht, die Sorge nach einer Eskalation des Krieges nicht anzuheizen. Nach dem Motto: Ich mach‘ das schon, keine Sorge.
Doch mit diesem Kommunikationsstil holt Scholz immer weniger Menschen ab. Wenn sie denn überhaupt kommen.
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Mitte Juli in Dresden, die SPD hat auf dem Schloßplatz zum Wahlkampfauftakt geladen. Die Stuhlreihen bleiben zunächst weitgehend leer. Dafür hat sich auf der anderen Seite eine Gruppe von rund 50 Gegendemonstranten versammelt, die meisten von den rechtsextremen „Freien Sachsen“. Drei Stunden lang trommeln, schreien und stören sie.
Als Scholz nach zweistündigem Programm als Höhepunkt die Bühne betritt, ist die Zahl der Zuhörer zwar auf rund 70 angewachsen, aber es sind immer noch einige Stühle leer. Stattdessen hören jenseits der Absperrgitter mehrere hundert Passanten zu. In den Zuschauerbereich wollten sie – trotz expliziter Einladung der Veranstalter – nicht kommen, sie bleiben lieber auf Distanz, immer bereit, sich schnell wieder abzuwenden und davon zu gehen.
Das ist nur eine Momentaufnahme, klar. Entscheidend ist, was an den Wahlurnen passiert. Dass sich Trends und Umfragen kurz vor knapp noch drehen können, haben nicht nur etliche Landtagswahlen bewiesen. Auch bei der Bundestagswahl 2021 ging ein mehrmals abgeschriebener Kandidat als Sieger ins Ziel: Olaf Scholz. Er galt den Deutschen im Vergleich zur Konkurrenz in der Stimmkabine plötzlich als die sicherste Bank. Warum sollte das nicht auch für die SPD in Ostdeutschland funktionieren, die sich als seriöse Alternative zu den Populisten von AfD und BSW positioniert?
Doch die CDU, die in Dresden und in Erfurt in die Staatskanzlei zurückdrängt, ist ja auch noch da. Sie wittert die Schwäche der SPD, vor allem in der Friedensfrage, und macht sich schon hübsch für das BSW. Nicht nur der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, sondern auch der thüringische CDU-Chef Mario Voigt hören sich beim Thema Ukraine-Krieg fast schon an wie Wagenknecht.
Das erhöht den Druck auf die SPD, die zuletzt immer zum Regieren gebraucht wurde – und nun durch die Linke-Abspaltung ersetzt werden könnte. Oder?
Frage an den Generalsekretär: Was wäre, wenn die SPD für eine CDU-BSW-Regierung gebraucht würde? „Das ist kein Wunsch!“, antwortet Kühnert. „Mit der AfD geht gar nichts, denn das sind Faschisten.“ Und auch mit dem BSW sollte „möglichst nichts gehen, denn das sind Populisten.“ Aber: „Wir können nichts ausschließen.“
Langweilig werden diese Landtagswahlen jedenfalls nicht.