Seine Kunden lieben ihn, trotzdem bleibt keiner lang: Tim Meylahn arbeitet als Palliativpfleger. Über einen Job, bei dem der Tod Alltag ist.

Seine Kunden lieben ihn, trotzdem bleibt keiner lang: Tim Meylahn arbeitet als Palliativpfleger. Über einen Job, bei dem der Tod Alltag ist.

In der Hochparterre-Wohnung von Andy Buterfas herrscht gute Laune. Es gibt Wodka Tonic, eben ist der angestammte Dealer gekommen, um ein paar Tütchen Gras vorbeizubringen. Als Krebspatient hätte der 64-Jährige das Marihuana auch legal bei der Apotheke besorgen können, aber wozu alte Connections abbrechen, wenn man ohnehin nicht mehr lange hat?

Seinen Palliativpfleger Tim begrüßt Buterfas wie einen Ehrengast in seiner Backstage-Area – der Senior war mal als „Andy Eagle“ eine lokale Rockmusikerkarriere und gilt als Hamburger Original. Fast könnte man vergessen, worum es hier geht: ums Sterben. Buterfas sitzt in einem elektronisch steuerbaren Krankensessel, zwischen „cheers!“ und flotten Sprüchen spuckt er Blut in einen Eimer neben sich.

Tim Meylahns Lächeln ist nicht gespielt, es friert nicht ein, wenn er die Wohnungstüren seiner sterbenden Kunden hinter sich schließt. Der Tod gehört zu seinem Alltag. Wenige Wochen nach dem Besuch bei Andy Buterfas ist auch diese Geschäftsbeziehung beendet, er ist tot. 

Meylahn kommt immer dann ins Spiel, wenn die Prognosen hoffnungslos sind. Wenn es nicht mehr darum geht, den Tod aufzuhalten, hinauszuzögern, sondern das Sterben so menschlich und würdevoll wie möglich zu gestalten. „Doch wie das aussieht, ist sehr unterschiedlich“, sagt Meylahn. Jeder Mensch stirbt anders, nur der Ausgang ist bei allen gleich.

Palliativpfleger als Partykiller

Wenn Tim Meylahns Chef bei Dinnerpartys gefragt wird, was er beruflich macht, würde dieser gelegentlich schwindeln, er sei Versicherungsmakler. „Sich als Palliativpfleger vorzustellen, ist der Partykiller schlechthin“, sagt Meylahn. Er selbst gehe hingegen bewusst auf Konfrontationskurs und spreche über seinen Arbeitsalltag, sofern sich die Menschen dafür interessieren. 

Nochmal leben vor dem Tod 16.25

Wie wird man das, an welchem Punkt in der Berufsfindung kommt man auf die Idee, Sterbende zu begleiten? Meylahn kommt aus einer Arbeiterfamilie, der Vater ist Maschinenschlosser bei ThyssenKrupp, der sich vielleicht gewünscht hätte, dass der Sohn in seine Fußstapfen tritt. Meylahn war lange auf der Suche, während des Zivildienstes in einer Behinderten-WG kam er mit dem Pflegeberuf in Kontakt. Als die Zeit vorüber war, schaute er in betroffene Gesichter, „und sie haben mich gefragt, ob ich möglicherweise bei ihnen einziehen könnte.“ Ein wegweisender Abschied.

Begleiter auf der letzten Reise 

Meylahn probierte sich noch anderweitig aus, machte eine Ausbildung zum Koch in der Sterne-Gastronomie. Als er sich einmal krankmeldete, habe ihm der Chef „ein Päckchen Koks hingeworfen und gesagt: Das nächste Mal biste nicht mehr krank.“ Gar nicht Tims Stil. Auf der Suche nach einer kurzfristigen Alternative kam er wieder zum Pflegeberuf, wo er schließlich seine Ausbildung machte und wo stets Nachfrage besteht. 

Sein erster Sterbender sollte ihn nachhaltig prägen. „Das war ein junger Patient um die 30 Jahre, stylischer Typ, hatte bei einer Modefirma als Designer gearbeitet, war unheilbar an Leberkrebs erkrankt“, erinnert er sich. Die beiden jungen Männer hatten schnell einen Draht zueinander gefunden. Kurz bevor er starb, wollte er Tim Meylahn etwas auf den Weg geben: „Ich hatte daran gezweifelt, ob ich mein Leben zwischen all den Sterbenden und ihren Medikamenten verbringen möchte, täglich mit Fentanyl, Oxycodon, Morphin und Schmerzpumpe hantieren will“. Doch von seinem ersten Todespatienten bekam er den Rat: „Mach das, du bist dafür gemacht.“

Pallativpfleger Tim Meylahn auf seiner täglichen Tour
© Isadora Tast

Es sollte nicht lange dauern, dass sich diese Einschätzung bewahrheiten würde, und Meylahn ganz von allein verstand, „dass mein Herz hierfür schlägt“. Ausgerechnet an einem Freitagnachmittag, als es mit ihm bereits zügig bergab gegangen war, äußerte ein Patient den Wunsch, noch auf den letzten Metern seines Daseins zu heiraten. „Es gab einfach keinen Standesbeamten, der verfügbar war, mehr Zeit hatte er aber nicht“, erinnert sich Meylan. Also telefonierte das ganze Team so ­lange, bis eine Beamtin auf dem Weg nach ­Bremen umdrehte und sich bereit erklärte, den Wochenendurlaub für die Trauung zu opfern. „Das war eine Riesen-Aktion und für uns alle ein unvergesslicher Moment.“ Die Ehe sollte ganze drei Tage währen.

Jeder stirbt auf seine Weise 

Wenn Tim Meylahn über seinen Beruf spricht, dann nimmt man eine Begeisterung wahr. Wie kann das sein, geht es doch um den finstersten Moment im Leben seiner Klienten? „Ich kann es nicht ändern, dass sie sterben. Aber ich kann verändern, wie sie es tun“, sagt er. Die Wünsche und Vorstellungen seiner Patienten will er unabhängig von seinen eigenen zulassen. In der Frage, wie sich jemand aus der Welt verabschiedet, ist er neutraler als die Schweiz. „Es gehört zu meinem Job, zu beraten, auch die Angehörigen über alle Möglichkeiten aufzuklären, aber ergebnisoffen“, so Meylahn. 

Die Wohnung eines weiteren Patienten in Hamburg-Eppendorf könnte sich kaum mehr von jener des Rockmusikers unterscheiden: gepflegtes Familienappartement. Die Ehefrau von Michael Hinz ist selbst Krankenschwester, weiß sehr gut Bescheid, wie es um ihren sterbenden Mann steht. Meylahn hat hier die Rolle eines Moderators, auch hier verabreicht er eine Medizin, die nicht jeder zur Verfügung hat: gute Laune. Erst gibt es ein kurzes Update der Oxycodon-Versorgung, dann über die aktuellen Spielerfolge des HSV. Letzteres scheint dem Patienten mehr Sorge zu bereiten als sein eigener Zustand. 

Cider auf Wattestäbchen

Manche seiner Patienten lernt er nicht einmal mehr bei Bewusstsein kennen. Dann bekommt der Beruf etwas Technisches, Routiniertes. Das nimmt er so an. Bei einem aus Irland stammenden Patienten, der sich bereits in den letzten Zügen befand, erfuhr Meylahn noch von dessen Liebe zum Nationalgetränk seiner Heimat: Cider. Also tränkte er die Wattestäbchen, mit denen die Mundschleimhaut befeuchtet wird, mit dem alkoholischen Apfelschaumwein, bis der Mann ein glückliches und etwas beschwipstes Lächeln im Gesicht hatte. 

Meylahn ist Teamleiter beim Hamburger Goldbach Palliativpflege-Team
© Isadora Tast

Lernt man etwas über das Leben und den Tod, wenn das Sterben von Menschen Alltag ist? „Dass ausgerechnet Kinder unbefangener damit umgehen“, sagt Meylahn. „Die gehen oft mit klareren Gedanken an den Umstand heran als die Erwachsenen“. Religionen, Ängste, Jenseitsvorstellungen versucht er von sich selbst fernzuhalten. Jeder müsse selbst wissen, wie er gehen will. Natürlich sei ihm der Gedanke an den eigenen Tod durch die alltägliche Gegenwart des Sterbens näher gekommen. „Ich bin aber nicht spiritueller geworden“, sagt er. Vielmehr würde er sich darüber wundern, dass „die Menschheit zum Mond fliegen, Computer und Künstliche Intelligenz entwickeln kann, aber auf die große Frage des eigenen Vergehens seit Jahrtausenden keine schlüssigeren Antworten liefern kann als die Generationen zuvor“.

Suche nach dem guten Tod Abschluss 15.46

Fenster auf für die Seele

So professionell Tim Meylahn dem Thema auch begegnen würde, gehört es doch zu seinem Beruf und zu seinem Ethos, nie abgeklärt zu sein. „Ich weiß nicht mehr über die menschliche Seele als alle anderen auch; außer, dass ich daran glaube, dass es sie gibt“, sagt er. Immer dann, wenn es vorüber ist, öffnet er das nächstgelegene Fenster, und macht der Seele, die gerade geht, den Weg frei.