Zum Tag der Gehörlosen sind wir für kurze Zeit mal selbst ertaubt. Damit zurechtzukommen, ist allerdings deutlich schwieriger, als man annehmen könnte.

Zum Tag der Gehörlosen sind wir für kurze Zeit mal selbst ertaubt. Damit zurechtzukommen, ist allerdings deutlich schwieriger, als man annehmen könnte.

Viele von uns kennen das Leben mit kleineren oder größeren Beeinträchtigungen. Da schmerzt mal ein Zahn, der Kopf oder Hals und wenn’s doof läuft, vertritt man sich den Fuß und hat einen Bänderriss. Doch wie lebt es sich damit, sein Leben lang auf ein Organ, gar einen Sinn verzichten zu müssen? Wir haben ausprobiert, wie es sich anfühlt, Zeit an einem Ort zu verbringen, an dem das Gehör nichts bewirken kann. Mal kurz gehörlos zu sein und dadurch auch mit unserer Sprache nichts ausrichten zu können.

Für diese Erfahrung gibt es im Hamburger Dialoghaus eine Führung, den sogenannten „Dialog im Stillen“. Wir wagen das Experiment, für eine Stunde auf unsere Ohren zu verzichten und den Mund zu halten. Angeleitet werden wir von einem Profi: Tobias Schauenburg, 42, ist durch eine Hirnhautentzündung seit seinem dritten Lebensmonat gehörlos. Bevor es losgeht, erhalten wir einen Kopfhörer, der keine Geräusche durchlässt. Er macht das so gründlich, dass man plötzlich nur noch das eigene Atmen wahrnimmt, daran muss man sich erstmal gewöhnen. Dialog im Dunkeln 1845

Der „Dialog im Stillen“ ist in unterschiedliche Stationen aufgeteilt. Zu Beginn erklärt Tobias uns, wie man applaudiert. Durch das Schütteln seiner Hände neben den Ohren kann er uns wissen lassen, wenn wir eine Aufgabe richtig gelöst haben. Viele Hörende kennen diese Gebärde bereits durch digitale Konferenzen in der Pandemie: Wenn am Rechner alle gleichzeitig klatschen, ist bei Zoom oder Teams nichts zu hören, wenn sie aber die Hände heben und schütteln, ist Applaus für jeden Teilnehmer sichtbar. 

Verständigung durch Gebärden 

Etwa 0,1 Prozent, also rund 80.000 Menschen in Deutschland, sind gehörlos. Ein eigener Weltverband hat den Tag der Gehörlosen im Jahr 1951 eingeführt, seit den 1970er Jahren wird er auch in Deutschland am letzten Sonntag im September begangen. Welchen Unterschied es macht, auf eine Lautsprache verzichten zu müssen, bemerken wir gleich bei unserem ersten Lernprojekt. Wir sollen herausfinden, welche Bedeutung sich hinter bestimmten Gebärden versteckt. Tobias zeigt uns Tierbilder und wir deuten auf eine Gebärde, die wir passend finden. Da ist allerdings nicht jeder Versuch ein Treffer …

Diese Gebärden stehen für unterschiedliche Tiere. Durch einfaches Umklappen der Tafeln wird das Rätsel gelöst. Finden Sie die Katze?
© Marcus Brandt

Man könnte meinen, es gäbe nur eine Gebärdensprache, die international gültig ist – doch das Gegenteil ist der Fall! Im Jahr 1755 wurde in Paris die erste öffentliche Schule für gehörlose Kinder gegründet und heute gibt es weltweit mehr als 300 Gebärdensprachen. In Deutschland zum Beispiel existieren für jeden Dialekt und alle Arten von Plattdeutsch eigene Gebärden. Die Vielfalt der Lautsprachen wird also nicht eingeschränkt, sondern sozusagen auf die Hände umgeleitet. 

Tobias hatte Glück im Unglück. Seine Mutter ist ebenfalls gehörlos und sein Vater Dolmetscher für Gebärdensprache. Er hatte es daher von klein auf mit Experten zu tun. Doch wann lernt man die eigentliche Gebärdensprache? Eine Dolmetscherin des Dialoghauses hat uns Tobias‘ Antworten parallel übersetzt. „Das ist davon abhängig, wann man selbst ertaubt. Ich habe schon früh durch sogenanntes Baby Sign mit meinen Eltern kommuniziert. Wenn ich zum Beispiel meine Flasche haben wollte oder meinen Schnuller. Gebärdensprache ist meine Muttersprache.“ Später in der Schule stellte Tobias fest, dass die Lehrenden darin nicht besonders firm waren. „Den ersten richtig inklusiven Unterricht hatte ich in meiner Berufsausbildung. Da war ich in der hörenden Klasse und hatte immer eine Dolmetscherin. Ich empfehle grundsätzlich, dass man schon in jungen Jahren mit der Gebärdensprache anfängt, weil Kinder viel aufnahmefähiger sind und das besser hinkriegen.“

Kaum bin ich gehörlos, kommt schon ein Test

Wir haben einige Stationen im „Dialog im Stillen“ durchlaufen und müssen nun unser intuitives Geschick beweisen. Auf einem Tisch liegt eine Kiste, auf deren Rückseite sich ein Bild befindet. In der Kiste sind Spielfiguren und Holzklötzchen, die das umseitige Motiv abbilden sollen. Wir sitzen uns gegenüber, einer muss gebärden, was zu tun ist, der andere (ich) muss verstehen, was mit den Laien-Gebärden gemeint ist. Während meine Partnerin Liv ihr Bestes gegeben hat, habe ich mich selten blöd angestellt. Soll der Affe jetzt auf den Holzklötzchenturm? Und das Baby in den Kinderwagen oder daneben? Und die Mutter, wo soll die hin? Ich wünschte, diese Prüfung würde endlich aufhören.

Apropos Prüfungen: Wenn man mal googelt, welche Ausbildungsberufe für Gehörlose angeboten werden, ist der Ausblick trist.

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heißt es etwa beim Ausbildungszentrum OTA. Doch Tobias weiß es besser. „Ich muss nicht mich an diese klitzekleine Auswahl halten. Es gibt gehörlose Ärzte, Rechtsanwälte, Professoren. Wir haben zum Beispiel mittlerweile auch gehörlose Personen in Chefetagen, also Führungskräfte. Das war wohl eher die hörende Perspektive von Google, die da angegeben wird. Aber ich habe ja verschiedene technische Hilfsmittel, die ich mir in meinem Arbeitsbereich dazuholen kann. Ich kann immer eine Dolmetscherin parat haben. Und die künstliche Intelligenz ist mittlerweile für mich eine enorme Unterstützung, wenn ich Texte schreibe, etwa für die Grammatik. Was sie allerdings nicht kann, ist das Übersetzen der Gebärdensprache in Lautsprache oder Text.“

Wer selbst einmal testen möchte, wie man sich auch ohne Hörsinn verständigen kann, dem sei ein Besuch im Dialoghaus sehr empfohlen.