Vor 80 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Der Tag ist Anlass für die Erinnerung an die Opfer – aber auch für Mahnungen, demokratische Werte zu schützen.
80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ist bei einem hessenweiten Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert worden. Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) rief bei einer zentralen Gedenkveranstaltung in Bad Arolsen (Landkreis Waldeck-Frankenberg) dazu auf, gegen Hass und Hetze aufzustehen. Die Gleichgültigkeit mancher Menschen bezeichnete Rhein als die größte Gefahr für die Demokratie.
„Ich weiß, dass es Menschen gibt, die sagen, Veranstaltungen wie diese sind nichts als bloße Erinnerungsrituale. Ich will Ihnen aber sagen, Veranstaltungen wie diese und ritualisiertes Gedenken sind mir lieber als planvolles Vergessen“, sagte Rhein. Dieses Gedenken dürfe niemals enden. Es sei Warnung und Mahnung „wie zerbrechlich die Werte sind, wie zerbrechlich unsere Menschlichkeit ist, wenn Hass und Gleichgültigkeit die Oberhand gewinnen“.
Auschwitz sei ein Ort, der wie kein anderer für das Unvorstellbare stehe, „das Unvorstellbare, das am Ende dann doch Realität werden konnte“. Es seien aber eben nicht nur die Nazis gewesen, die Auschwitz möglich gemacht hätten, sondern „ganz normale Menschen, die aktiv mitgewirkt haben bei den Übergriffen, bei den Verhaftungen, die geholfen haben bei den Deportationen, und die mitgewirkt haben an der Vernichtung“. Es seien Nachbarn, Arbeitskollegen, Schulkameraden, Geschäftsinhaber gewesen. Viele hätten sich gemein gemacht, viele auch einfach ihren eigenen Vorteil gesucht.
Rhein: Demokratie braucht Einmischung
Das zeige, wohin Gleichgültigkeit führen könne. „Gleichgültigkeit ist und bleibt das gefährlichste Gift, die größte Gefahr für uns alle, weil Demokratie genau das Gegenteil davon braucht“, betonte Rhein. Demokratie brauche Einmischung, brauche Menschen, die sich aktiv einbringen. „Menschen, die bereit sind, für unsere Werte zu streiten. Menschen, die bereit sind, dafür einzutreten. Und zwar Tag für Tag.“ Demokratie brauche Haltung.
„Es reicht eben nicht mehr, nur die Vergangenheit zu verstehen, sondern wir müssen die Gegenwart gestalten“, so Rhein. Es reiche nicht mehr aus, nur zu reden. „Wir müssen jetzt als demokratische Gesellschaft handeln. Jetzt müssen wir unsere Stimme erheben. Jetzt müssen wir klar und deutlich für unsere Werte und gegen Hass, Hetze und Ausgrenzung einstehen.“ Wir könnten und müssten jetzt zeigen, dass wir aus der Geschichte gelernt hätten. „Das ist der Grund, warum Erinnern und Gedenken nicht ritualisiert sind, sondern Erinnern und Gedenken so wichtig sind.“
Erinnerung lebendig halten
Auch Hessens Landtagspräsidentin Astrid Wallmann rief dazu auf, die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus lebendig zu halten. „Mit dem allmählichen Verstummen der letzten Zeitzeugen tritt das Erinnern gegenwärtig in eine neue Phase ein“, sagte sie. „Nun ist es unsere Verpflichtung, deren Zeugnis weiterzutragen und die Erinnerung an die dunkelste Phase unserer Geschichte wachzuhalten.“
In dieser neuen Phase des Gedenkens stehe man „gemeinsam vor der Aufgabe, eine Erinnerungskultur zu gestalten, die nicht starr, ritualisiert und formelhaft ist; sondern eine, die das Bewusstsein für die permanente Gefährdung unserer Demokratie schärft, die wachrüttelt und die die Menschen in Hier und Jetzt zum Handeln bewegt: Zur Solidarisierung mit ihren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, zum entschiedenen Einschreiten gegen alle Formen des Antisemitismus sowie gegen jegliches antidemokratische und menschenverachtende Gedankengut“, sagte Wallmann.
Welle des Antisemitismus auch in Hessen
Wallmann beklagte eine Welle des Antisemitismus seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 – auch in Hessen. „Daran wird deutlich: Der Antisemitismus war nie weg aus unserer Gesellschaft.“ In aller Heftigkeit trete er in alten wie in neuen Formen zutage. Jüdinnen und Juden würden auf unseren Straßen und im Netz mit Hass und Hetze überzogen, sie würden beleidigt und bedroht, sogar an den Orten, von denen aus einst die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen ihren Anfang genommen habe.
„Dass sogar an deutschen Hochschulen und Universitäten Jüdinnen und Juden bedrängt und eingeschüchtert werden und manche Veranstaltungen nur noch unter Polizeischutz stattfinden können, ist 80 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur ein besonders beschämender und trauriger Befund“, betonte Wallmann.
Dem Leid eine Stimme geben
Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz stehe wie kein anderes Lager für die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und sei zur Chiffre für das größte Menschheitsverbrechen – die Schoa – geworden. „Wir gedenken heute aller Opfer des Nationalsozialismus.“
„Manchmal war der Weg vom Mensch zum Unmensch nur so weit wie der Weg vom morgendlichen Frühstückstisch in der eigenen Familie zum Wächterhaus im Konzentrationslager nebenan. Dafür steht Auschwitz“, sagte Hessens Antisemitismusbeauftragter, Staatssekretär Uwe Becker (CDU), der die Gedenkrede hielt. „Man musste schon wegsehen, um es nicht zu sehen. Weghören, um die Schreie nicht mitzuhören. Manche tun dies bis heute“, so Becker.
Jahrestag verlangt Erinnerung
Der Nationalsozialismus sei aus der Mitte der Gesellschaft heraus erwachsen. „Dieser besondere Jahrestag verlangt das besondere Bekenntnis zur Fortdauer unserer Erinnerung an dieses Menschheitsverbrechen, das immer ein Teil der deutschen Geschichte, ja noch mehr Teil unserer deutschen Identität bleiben wird.“ Gerade junge Menschen müssten auch heute und in Zukunft weiter erreicht und wachgerüttelt werden. „Wer in Bezug auf die Erinnerung an den industriell organisierten Massenmord an sechs Millionen europäischen Juden vom Schlussstrich spricht, der möchte nicht alleine ein Ende unserer Erinnerungskultur in Deutschland. Nein, er möchte die Geschichte umschreiben“, mahnte Becker.
Am 27. Januar 1945 hatten sowjetische Truppen die Überlebenden des deutschen Konzentrationslagers Auschwitz im besetzten Polen befreit. Die Nazis hatten dort mehr als eine Million Menschen ermordet. Seit 1996 wird das Datum in Deutschland als Holocaust-Gedenktag begangen.
Bad Arolsen ist Sitz der Arolsen Archives. Das internationale Zentrum über NS-Verfolgung gilt als weltweit umfassendste Sammlung zu den Opfern der NS-Verbrechen. Die Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen gehört zum Unesco-Weltdokumentenerbe.