Der Linke droht der Rauswurf aus dem Bundestag. Aber es gibt ja noch Bodo Ramelow. Sein Wahlkreis könnte über die parlamentarische Existenz der Partei entscheiden.
Ist er das wirklich? Einige der Menschen, die gerade aus dem Supermarkt kommen oder zur Straßenbahn eilen, blicken neugierig zu dem Mann, der vor ihnen im schwarzen Kurzmantel fröstelt. Aber ja, da steht er auf dem „Platz der Völkerfreundschaft“ in Erfurt und lächelt recht freundlich: Bodo Ramelow, 68 Jahre alt und bis vor kurzem Linke-Ministerpräsident von Thüringen.
Um ihn herum ist das übliche Kampagnenarrangement aufgebaut: roter Schirm mit Parteilogo, Lautsprecheranlage, ein paar Plakate. Auf einem Tisch liegen Kugelschreiber, Brillentücher und Broschüren bereit. Daneben stehen Papiertüten mit der Aufschrift: „Vom Landes-Vater zum Bundes-Bodo“. Mittendrin lockt eine große Thermoskanne mit heißem Tee.
Ramelow macht das, was er am besten kann: Er redet. Und redet. Hier, in einem der Wohnblöcke, ruft er ins Mikrofon, habe er mal gelebt, als er 1990 aus Hessen nach Thüringen kam. Damals sei er für die Leute, die einst im Einkaufszentren arbeiteten, als Gewerkschafter eingetreten. „Das ist mein Quartier!“, sagt er. Kommentar MP-Wahl Voigt 12.29
Doch nur wenige Passanten bleiben stehen, ein gutes Dutzend werden es nach einer Stunde sein. Vielleicht liegt es daran, dass es ziemlich kalt ist und langsam dunkel wird. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass in diesem grauen Viertel, wo sich Plattenbauten und Gewerbegebiete abwechseln, längst nicht mehr Ramelows Linkspartei dominiert – sondern Björn Höckes AfD.
Denn auch hier, im Erfurter Norden, ist der Ministerpräsident deutlich abgewählt worden. Bei der Landtagswahl im September stürzte seine Linke von 31 Prozent auf 13,1 Prozent ab, während die AfD fast ein Drittel an Stimmen zulegte und mit knapp 33 Prozent die Wahl gewann. Die Partner von Ramelows rot-rot-grüner Minderheitskoalition büßten ebenso Stimmen ein, die Grünen mussten gar den Landtag verlassen. Seit Mitte Dezember regiert die CDU mit den Resten der SPD – und der Linke-Abspaltung BSW.
Bodo Ramelow muss noch einmal seiner Partei aushelfen
Trotzdem ist der Ex-Regierungschef schon wieder mitten im Wahlkampf. Er will jetzt in den Bundestag. Nicht, weil er das unbedingt nötig hätte. Die Rente ist sicher, zudem hat er noch ein Mandat im Landtag. Aber da ist eben noch seine Partei.
Die Linke befindet sich in der schwersten existenziellen Krise, seitdem sie 2007 aus der Fusion von PDS und WASG entstand. Sie leidet nicht nur mit der gesellschaftlichen Stimmung oder der radikalpopulistischen Konkurrenz von Sahra Wagenknechts BSW, sondern immer noch unter den bekannten internen Konflikten, seien sie nun ideologisch oder persönlich. In den Umfragen liegt die Linke seit Monaten stabil unter der Fünf-Prozent-Hürde, die meisten Erhebungen sehen sie bei gerade einmal drei Prozent.
Am Samstag will die Partei in Berlin ihr Wahlprogramm beschließen. Doch trotz der vielen Sozialforderungen von Mindestlohn bis Mietdeckel dürfte es kaum wahrgenommen werden. Als wahrscheinlicher gilt, dass sich ihre parlamentarische Existenz der Linke hier entscheidet, in Thüringen, im Wahlkreis von Bodo Ramelow. Wenn er ihn gewinnt, könnte die Linke wohl im Bundestag bleiben. Und falls nicht, dann nicht.
Der Schlüssel ist die sogenannte Direktmandatsklausel. Sie war von der Ampel-Koalition abgeschafft, dann aber nach einer Klage der Linke wieder vom Bundesverfassungsgericht eingesetzt worden. Die Ausnahmeregel besagt: Wenn eine Partei drei Wahlkreise direkt gewinnt, gilt die Fünf-Prozent-Hürde nicht mehr. Stattdessen zieht sie entsprechend ihres gesamten Zweitstimmenergebnisses ins Parlament ein.
Mindestens drei Direktmandate werden gebraucht
Schon bei der Bundestagswahl 2021 schaffte es die Linke mit ihren 4,9 Prozent nur deshalb gerade so ins Parlament, weil mit Gregor Gysi, Gesine Lötzsch und Sören Pellmann genau drei Abgeordnete ihre Wahlkreise direkt gewannen. Die Partei besetzte damit 39 Mandate – bis sich dann vor gut einem Jahr das BSW abspaltete und sie von der Fraktion zur „Gruppe“ im Bundestag schrumpfte.
Also soll am 23. Februar wieder Gysi, der am Donnerstag 77 Jahre alt wurde, seinen Berliner Wahlkreis in Treptow-Köpenick gewinnen. Da er 2021 sein Mandat mit einem Vorsprung von 20 Prozentpunkten vor der Konkurrenz verteidigte, gilt er auch diesmal als klarer Favorit.
Nicht ganz so gewiss ist der Sieg von Sören Pellmann, der seit 2017 den Wahlkreis Leipzig II innehat. 2021 betrug sein Vorsprung vor der grünen Abgeordneten Paula Piechotta, die wieder kandidiert, nur gut vier Prozentpunkte. Außerdem tritt das BSW mit einem eigenen Kandidaten auf.
Gysi, Bartsch und die „Mission Silberlocke“
Das größte Problem für die Linke ist der bisherige Wahlkreis von Gesine Lötzsch. Die Abgeordnete, die seit 2002 in Berlin-Lichtenberg gewann, scheidet aus der Politik aus, und dies durchaus im Unfrieden. Ihrer Nachfolgekandidatin – der neuen Parteichefin Ines Schwerdtner – trauen selbst in der Linke nur wenige einen Erfolg zu.
Deshalb verabredete der ewige Partei-Nestor Gysi mit Ramelow die Notkandidatur. Zum Team der sogenannten „Mission Silberlocke“, wie man sich selbst nennt, gehört auch der frühere Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch, der allerdings in seinem Rostocker Wahlkreis wenig Chancen auf einen Sieg haben dürfte.
Damit wird die Frage, ob die Linke im Bundestag bleibt, wahrscheinlich final in Thüringen beantwortet. Einfach wird es für Ramelow allerdings nicht. Die Konkurrenz ist groß und prominent. Linke Aktion Siilberlocke 11:36
Zuletzt gewann den Wahlkreis Carsten Schneider, der SPD-Abgeordnete und Ost-Beauftragte der Bundesregierung, der natürlich wieder antritt. Für die Grünen kandidiert neuerlich Katrin Göring-Eckardt, die Vizepräsidentin des Bundestages. Und für die FDP bewirbt sich ausgerechnet Landeschef Thomas Kemmerich, der vor fünf Jahren Ramelow mithilfe der AfD kurzzeitig aus der Staatskanzlei verdrängte.
Nur der Kandidat der CDU, die den Wahlkreis auch schon mehrfach besetzte, ist neu und noch weidlich unbekannt. Aber für ihn spricht der Bundestrend seiner Partei. Auch das BSW ha hier einen Bewerber aufgestellt.
Vor allem aber die AfD ist nicht zu unterschätzen. Zwar ist der Wahlkreis, zu dem noch Weimar und ein Teil des zugehörigen Landkreises gehört, vor allem städtisch geprägt. Aber er umfasst aber dennoch viele Dörfer – und große Plattenbaugebiete wie im Erfurter Norden.
Vom Mitgründer der Partei zu ihrem potenziellen Retter
Dennoch gibt sich die Linke optimistisch: Wenn es einer schaffen könne, dann ihr einstiger Regierungschef, der bei der Landtagswahl gegen den Trend sein Landtagsmandat im Erfurter Süden verteidigte.
Es ist eine Geschichte, wie sie Ramelow liebt, zumal er in ihr eine tragende Rolle hat. Der Titel: Retter Ramelow. Die Handlung: Als Fusionsbeauftragter formte er die Linke, als Ministerpräsident machte er sie zur stärksten Kraft in Thüringen – und jetzt, als Bundestagskandidat, will er sie im Parlament halten.
Doch bevor es zum linken Happy End kommen kann, steht Ramelow einsam zwischen den Plattenbauten vor einem Häuflein Zuhörer, während auf einer nahen Bank einige Männer ein frühes Bier trinken. Er schimpft routiniert darüber, dass die Reichen immer reicher würden und die Armen immer ärmer. Viele Menschen fürchteten sich davor, ihre Rechnungen für Strom oder Heizung zu öffnen, ruft er. „Sie haben Angst!“
Eben noch Ministerpräsident, jetzt schon Bundestagskandidat: Der Linke Bodo Ramelow
© Martin Debes
Der Kandidat selbst wirkt gar nicht verängstigt. Er ist hier nicht nur in seinem Quartier, sondern auch in seinem Element. Dass ihm kaum jemand zuhört, soll ihm egal sein. Von hinten anzugreifen, das war schon immer sein Ding.
Kein Termin ist ihm zu klein. Vor dem Auftritt vor dem Supermarkt war bei einem Rentnernachmittag im Dörfchen Marbach. „Das macht mir richtig Spaß“, sagt er dem stern. „Ich bin voller Energie.“
Außerdem bleibt er so wichtig. Zwei Polizeiautos parken unweit eines schwarzen SUV, auf dessen Dach ein Blaulicht geschnallt ist. Die Personenschützer des Landeskriminalamts haben sich diskret positioniert.
Vor ein paar Tagen, sagt Ramelow, habe er zusammen mit Gysi und Bartsch gleich mehrere Interviews in Berlin absolviert, bei RTL/ntv, bei der „Süddeutschen Zeitung“ und der „Super-Illu“. Die „Mission Silberlocke“ schaffe die dringend nötige Aufmerksamkeit für die Partei.
Urlaub im Wahlkampf
Und für ihn selbst – wobei dies Ramelow natürlich anders betrachten möchte. Eigentlich, sagt er, habe er nach dem Landtagswahlkampf und den anstrengenden Monaten der Übergangszeit in der Staatskanzlei ein paar Wochen Ferien machen wollen. Aber die Zukunft der Linke sei nun mal wichtiger als Erholung: „Ich mache jetzt eben meinen Urlaub im Wahlkampf.“
Es ist dunkel geworden zwischen Supermarkt, Drogerie und Straßenbahnhaltestelle. Die Kälte beißt in die Gesichter. Der Wahlkampfstand wird wieder abgebaut – nur um ein paar Blöcke weiter, auf dem „Moskauer Platz“, wieder aufgebaut zu werden. Ramelow ist an diesem Abend noch nicht fertig. Einer muss ja die Linke retten.