Anwalt und Rechtspolitiker Jerzy Montag hat den Tod von Oury Jalloh als Sonderermittler für den Landtag Sachsen-Anhalt untersucht. Kaum einer kennt die Details des Falls besser.

Anwalt und Rechtspolitiker Jerzy Montag hat den Tod von Oury Jalloh als Sonderermittler für den Landtag Sachsen-Anhalt untersucht. Kaum einer kennt die Details des Falls besser.

Herr Montag, Sie haben mit dem ehemaligen Münchner Generalstaatsanwalt Nötzel einen über 300-seitigen Bericht vorgelegt und die Fehler der Polizei im Fall Oury Jalloh aufgearbeitet. Welche Fehler waren das?
Eine ganze Menge. Oury Jalloh hätte überhaupt nicht festgenommen werden dürfen.

Er hatte angeblich Frauen belästigt.
Aber das allein wäre doch kein Grund, jemanden festzunehmen. Sie müssen sich die Situation so vorstellen: Zwei Polizisten kommen an den Ort des Geschehens. Am Mittelstreifen der Straße stehen mehrere Frauen, die die Polizei gerufen haben. In einiger Entfernung steht ein Mann in einem Hauseingang und tut nichts. Die Polizisten trennen sich. Ein Polizist sagt: „Ich gehe zu den Frauen und frage, was passiert ist.“ Der andere Polizist sagt: „Ich gehe zu dem Mann, der da im Tor steht, und frage ihn, wer er ist.“ Der Polizist, der zu Oury Jalloh ging, wusste überhaupt noch nicht, dass das der Mann war, der die Frauen angeblich belästigt haben sollte. Trotzdem verlangte der Polizist, ohne einen Grund anzugeben, seinen Ausweis. Das war rechtswidrig. Als Jalloh sich zu Recht weigerte, seinen Ausweis zu zeigen, wurde er, ohne vorherige Androhung physischer ­Gewalt, von den beiden Polizisten in den Streifenwagen gezerrt.

Zur Person

Das war alles rechtswidrig? 
Alles, was auf der Straße geschah, war rechtswidrig. Das haben nicht wir herausgefunden, das haben die Gerichte festgestellt. Die rechtswidrige Behandlung setzte sich auf dem Polizeirevier fort. Oury Jalloh wurde Blut abgenommen, ohne eine richterliche Genehmigung. Er wurde ohne richterliche Erlaubnis in die Gewahrsamszelle gesperrt, weil seine Identität angeblich unbekannt war. Das war schlicht unwahr. 
Seine Personalien waren im polizeilichen Informationssystem gespeichert und im Polizeirevier bekannt. Oury Jalloh durfte sich gegen alle diese Handlungen zur Wehr setzen. Und trotzdem hat man ihn an Händen und Füßen am Boden angekettet. All das war rechtswidrig. 

Haben die Strafverfolgungsbehörden nach dem Tod von Oury Jalloh genug unternommen, um den Fall aufzuklären?
Nach meiner Überzeugung haben die Strafverfolger nach einigen Anfangsschwierigkeiten und Irrwegen, die viel Zeit gekostet haben, im Ergebnis alles unternommen, was möglich ist, den Fall aufzuklären.

Was meinen Sie mit „Irrwegen“ und „Anfangsschwierigkeiten“?
Bereits am Todestag hat die Polizei Fehler bei der Tatorterfassung gemacht. 

OuryJalloh 20.40

Welche waren das Ihrer Meinung nach? 
Es sollte eine Videografie erstellt werden. Sie wurde aber aus nicht nachvollziehbaren Gründen abgebrochen, weil der Strom angeblich ausgefallen war, was nachweislich nicht stimmte. Man hat den Tatort nicht sofort und vor Ort gründlich in Augenschein genommen, sodass ein fast verkohltes Feuerzeug erst Tage später bei der chemischen Untersuchung im Landeskriminalamt aufgefunden worden ist. Gutachten sind erst nach Monaten oder Jahren zustande gekommen. Die Kripo hat auch nicht alle möglichen Zeugen gleich am ersten Tag oder in den ersten Tagen befragt. Die Gegenstände, die man bei Oury Jalloh gefunden hat, sind bei seiner Festnahme nicht ordnungsgemäß durchsucht worden. Ich habe 15 Jahre nach seinem Tod in den Unterlagen, die er bei sich trug, eine Urkunde gefunden, die seine Identität eindeutig belegte. Sie ist nie zur Kenntnis genommen worden. Bei Kenntnis wäre seine Identität geklärt gewesen, und Oury Jalloh hätte nie festgenommen werden dürfen. 

Waren die Fehler fahrlässig oder gezielte Vertuschungsversuche?
Es gibt keine Hinweise dafür, dass diese Fehler vorsätzlich gemacht wurden. Es war eine Ansammlung von Pannen, Fehlern, Unachtsamkeiten. Aber einen Vorsatz, falsch und fehlerhaft zu ermitteln, habe ich an keiner Stelle in den Akten finden können. Bei solchen Behauptungen handelt es sich um Vorurteile, die nicht faktenbasiert sind. 

Die „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ glaubt, dass er ermordet wurde. Die Polizisten hätten ihn geschlagen und, um das zu vertuschen, angezündet. Die Mordtheorie wird auch in Filmen, Büchern, Podcasts und im Internet verbreitet.
Der Mordvorwurf konnte weder durch Tatumstände noch durch Tatsachen erhärtet werden. Es ist eine reine Behauptung ins Blaue hinein. Das war sie von Anfang an, und das ist sie leider geblieben. Dafür, dass Oury Jalloh zusammengeschlagen und ermordet worden ist, gibt es keinen Beleg. Es gab in diesem Fall viele Vorurteile. Die Leute haben versucht, Beweise dafür zu finden, ihre Vorurteile zu bestätigen. Das ist in keinem Punkt gelungen.

Den Vorwurf des Mordes erhob er gegen einen Polizisten, der zu diesem Zeitpunkt bereits tot war

Aber die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau hat 2017 gegen zwei Polizeibeamte wegen Mordes ermittelt. Das Verfahren wurde dann der Staatsanwaltschaft Halle übertragen, die es schließlich einstellte.
Die Entscheidung des Dessauer Staatsanwalts, zwölf Jahre nach dem Tod von Jalloh plötzlich doch Ermittlungen wegen Mordes einzuleiten, ist bis zum Schluss ein dunkler Punkt geblieben, jedenfalls für unsere Untersuchungen. Der Staatsanwalt hat seine Rechtsauffassung innerhalb von vier Tagen grundlegend geändert, ohne dass nachvollziehbar gewesen wäre, worauf das basierte. Leider hat er sich geweigert, mit uns da­rüber zu sprechen. Den Vorwurf des Mordes erhob er gegen einen Polizisten, der zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Und er ­beschuldigte eine Polizistin, die ein erwiesenermaßen unerschütterliches Alibi hatte.

Was hatte sie für ein Alibi?
Um diese Frage zu beantworten, muss man die baulichen Kenntnisse in der Polizeiinspektion in Dessau kennen. Die Verwahrräume, also der Raum, in dem Jalloh gefesselt am Boden lag, befand sich im 
Keller, das Polizeirevier im ersten Stock des Hauses. Die Frau war, wie man durch Telefonate und anderes nachweisen konnte, zum Todeszeitpunkt die ganze Zeit oben im Polizeirevier und eben nicht unten 
im Keller. 

Warum wurden die Mordermittlungen gegen die Polizisten denn eingeleitet? 
Als der Generalstaatsanwalt des Landes Sachsen-Anhalt im Parlament gefragt wurde, warum der Staatsanwalt aus Dessau ausgerechnet diese beiden Beamten zu Beschuldigten des Mordes erkoren hatte, antwortete er – ich darf zitieren: „Irgendeinen Namen muss er ja reinschreiben.“

OuryJallohKommentar 09.08

Das klingt nach Verfolgungseifer.
Das ist für einen Generalstaatsanwalt eine blamable und unhaltbare Aussage. Selbstverständlich darf kein Staatsanwalt irgendeinen Namen als Beschuldigte eines Mordes in die Akten hineinschreiben. In der Gesamtschau ist die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Halle nachvollziehbar gewesen, nämlich das Verfahren einzustellen. 

Die Gedenk-Initiative hat ein privates Gutachten in Auftrag gegeben, demzufolge der Adrenalinwert von Jalloh auf keinerlei Aufregung hindeutete. Der damals ermittelnde Staatsanwalt ging daher davon aus, dass Jalloh bewusstlos, wenn nicht gar tot war, als er angezündet wurde. 
Es gab dieses Gutachten, aber auch ein Gegengutachten. Das besagte, dass beim Einatmen sehr heißer Luft der Tod so augenblicklich eintreten kann, dass sich kein großer Wert bildet.

Der Feueralarm sprang laut Ermittlungen zwei Mal an. Beide Male hat der Dienstgruppenleiter ihn ausgeschaltet. Wie erklären Sie sich das?
Er behauptete, der Alarm störe ihn beim Telefonieren, und es habe früher schon Fehlalarme gegeben. Sein Verhalten war ein grobes Dienstvergehen, frühere Fehlalarme konnten die Gerichte nicht feststellen.

Der Obduktionsbericht, der direkt nach Jallohs Tod angefertigt wurde, enthält keine Feststellungen zu Knochenbrüchen

Es gab eine Reihe von Gutachten, sowohl behördlicherseits als auch von der Initiative. Einige Brandgutachter haben behauptet, ohne Brandbeschleuniger wäre es in der Zelle nie so heiß geworden und die Leiche nie so stark verbrannt. Was sagen Sie dazu?
Es gab Gutachten und Gegengutachten. Tatsache ist, dass kein Brandbeschleuniger in der Zelle oder am Körper gefunden wurde.

Ein Gutachter stellte fest, dass Oury Jallohs Nase und seine Rippen gebrochen waren. Legt das nicht den Schluss nahe, dass er misshandelt wurde, bevor er starb?
Nicht unbedingt. Diese Feststellungen beziehen sich auf die verkohlten Reste der Leiche, die vorher tiefgekühlt von Sachsen-Anhalt nach Frankfurt am Main über viele Hunderte Kilometer transportiert worden ist. Sie rechtfertigt lediglich die Feststellung, dass es an der Leiche möglicherweise Knochenbrüche gegeben hat. Das sind aber keinerlei Beweise dafür, dass diese Knochenbrüche dem lebenden Menschen Oury Jalloh zugefügt wurden. Das kann auch während des Transports geschehen sein. Der Obduktionsbericht, der direkt nach Jallohs Tod angefertigt wurde, enthält keine Feststellungen zu Knochenbrüchen. 

Kommen wir zum Feuerzeug. Die Gedenk-Initiative behauptet, dass in der Zelle gar kein Feuerzeug gewesen und es im Nachhinein dort platziert worden sei. Was sagen Sie dazu?
Eine reine Unterstellung. Die Polizei, also die Brandermittler vor Ort, fanden eine völlig verkohlte Leiche vor, die auf den Resten einer verkohlten Matratze lag. Ein Stück von der Matratze, direkt unter der Leiche, wurde herausgeschnitten und in Plastik verplombt, damit etwaige Ausdünstungen von Gas nicht verloren gingen. Das ist eine sachlich völlig korrekte Vorgehensweise, denn wenn es Brandbeschleunigungsspuren gibt, sind sie genau unter der Leiche. Das Ganze geschah am Freitagnachmittag. Dieses verschlossene Behältnis wurde in die technische Abteilung des Landeskriminalamts gebracht. Am Montag früh hat eine Chemikerin des Landeskriminalamts diese Plastikumhüllung aufgemacht, um den Inhalt zu untersuchen. Sie hat das Stück von der Matratze auseinandergenommen und in diesem Schutt ein völlig verkohltes, fast nicht mehr zu erkennendes Feuerzeug gefunden. All das ist hundertprozentig dokumentiert und ganz eindeutig festgestellt worden. Die Behauptung, irgendjemand habe ein völlig verkohltes Feuerzeug in dieses Paket hineinverbracht, ist ohne jeglichen Beweis.

stern PAID Urteil im Fall Dramé.  16.00

Ein Polizist hat bei seiner Vernehmung, kurz nach Oury Jallohs Tod, gesagt, er habe sein Feuerzeug noch bei sich und könne es vorzeigen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat daraus geschlossen, dass der Polizist mit dieser Aussage womöglich vertuschen wollte, dass er sein Feuerzeug beim Gerangel mit Oury Jalloh verloren hatte. Und dass Oury Jalloh dieses Feuerzeug gefunden und damit das Feuer gelegt haben könnte – möglicherweise, um aus der Zelle geholt zu werden, in die er rechtswidrig gesperrt worden war.
Das sind alles Möglichkeiten, wie Sie selbst sagen. Es gibt dafür keinen Beweis. Aber die These würde auch eher dafür sprechen, dass es keinen Mord gegeben hat. 

Wenn es so gewesen sein sollte, könnte man daraus schließen, dass der Polizist unvorsichtig war und sein Feuerzeug verloren hat. Und dass Oury Jalloh damit überhaupt erst in den Besitz eines Feuerzeugs kam. Er wurde nicht sorgfältig durchsucht, deshalb ist ihm das Feuerzeug nicht abgenommen worden.
Dass die Polizei bei der Durchsuchung nicht gerade sorgfältig vorgegangen ist, ist bewiesen. Ich selbst habe in den Unterlagen, die man Oury Jalloh damals abgenommen hat, diese Urkunde gefunden, die bisher niemand zur Kenntnis genommen hatte. Dass es bei der Durchsuchung zu Fehlern gekommen ist, wird überhaupt nicht bestritten. Aber das alles hat mit einem Beweis für einen Mord nichts zu tun. 

Wenn man Ihren Bericht liest, hat man den Eindruck, dass die Polizei in Dessau damals oft willkürlich handelte: Betrunkene wurden mit auf die Wache genommen – als „erzieherische Maßnahme“, wie es ein Polizist vor Gericht ausgedrückt hat. Menschen wurden in Gewahrsamszellen gesteckt, ohne dass sich die Polizei vom Amtsgericht die Genehmigung dafür einholte. Warum waren die Polizisten der Auffassung, sie dürften das? 
Diese Frage dürfen Sie mir nicht stellen. Ein Polizist hat diese Praxis in seiner Vernehmung vor einem Gericht als üblich bezeichnet. Aber auch der Direktor des Amtsgerichts Dessau hat erklärt, dass er nicht gewusst habe, dass vor einer Freiheitsentziehung eine richterliche Anordnung erfolgen müsse. Sowohl bei der Polizei als auch bei der Justiz in Sachsen-Anhalt herrschte zum damaligen Zeitpunkt der wilde Westen. 

Es gibt verschiedene Formen der Schuld

Wie haben das Innenministerium und die Polizei auf Ihren Bericht reagiert?
Wir haben in unserem Bericht eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen gemacht, die zum Teil umgesetzt wurden. Wir haben etwa kritisiert, dass es nicht sein darf, dass Menschen an Händen und Füßen angekettet in einem Kellerverlies gefangen gehalten werden. Das ist auch sofort unterbunden worden. Es passiert meines Wissens in Sachsen-Anhalt nicht mehr. 

Würden Sie sagen, dass die Polizei schuld ist am Tod von Oury Jalloh? 
Natürlich trägt die Polizei in Sachsen-Anhalt Schuld daran, dass Oury Jalloh ums Leben gekommen ist. Wenn sich die Polizei korrekt verhalten hätte, wäre er noch am Leben. Aber es gibt verschiedene Formen der Schuld. Es gibt Fahrlässigkeit, es gibt Schuld durch Untätigkeit. Es gibt Schuld, indem man Fakten setzt. Rechtswidrige Fakten, die zum Tod eines Menschen führen. Und es gibt Schuld im Sinne einer absichtsvollen Tötung. Die Justiz in Sachsen-Anhalt hat nach langen Irrwegen die Schuld des Dienststellenleiters festgestellt, nämlich die Schuld der Untätigkeit. Deswegen ist er wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung verurteilt worden. Er hätte Oury Jalloh in der Zelle mit einer sogenannten Sitzwache ununterbrochen überwachen lassen müssen. 

Glauben Sie, dass sich ein Fall wie Oury Jalloh wiederholen könnte? Nicht nur in Sachsen- Anhalt, sondern auch anderswo?
Das ist theoretisch immer möglich. Auszuschließen sind solche Fälle auf keinen Fall. Es kommt darauf an, dass bei der polizeilichen Ausbildung, bei der juristischen Ausbildung und bei der Sachausstattung der Polizei alles unternommen wird, damit solche Fälle nicht vorkommen.