Frauen aus Afghanistan haben ein Recht auf Asyl – so hat es der Europäische Gerichtshof im Herbst entschieden. Das Urteil ist umstritten. Wie anwendbar ist es in der Realität?

Frauen aus Afghanistan haben ein Recht auf Asyl – so hat es der Europäische Gerichtshof im Herbst entschieden. Das Urteil ist umstritten. Wie anwendbar ist es in der Realität?

Eine Frau in Afghanistan darf nur bis zur sechsten Klasse zur Schule gehen. Sie darf nicht studieren und soll keiner bezahlten Arbeit nachgehen. Sie darf keine öffentlichen Ämter bekleiden und kein Unternehmen führen, keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen und auch kein Auto fahren. Wenn sie das Haus verlässt, muss sie in Begleitung eines Mannes sein. 

Eine Frau in Afghanistan muss ihren Körper und ihr Gesicht verhüllen, sie darf keine Haut und kein Haar zeigen. Sie darf keinen Sport im Verein machen, kein Mitglied in einem Fitnesscenter sein. Sie darf kein Schwimmbad und keinen Freizeitpark besuchen, nicht in der Öffentlichkeit sprechen und sogar in ihrem eigenen Zuhause darf sie nicht laut beten.

Taliban-Gesetze in Afghanistan verletzten Menschenrechte

Diese Regeln haben die Taliban aufgestellt, seit sie im August 2021 wieder an die Macht kamen. Verstöße werden hart bestraft. Die Richter des Europäischen Gerichtshofs mussten in diesem Herbst entscheiden, ob die Taliban-Gesetze einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechen. Ihre Antwort ist ein klares Ja. Frauen wird in Afghanistan ihre Menschenwürde aberkannt.

Es ist ein Ja mit weitreichenden Konsequenzen in allen EU-Mitgliedstaaten. Denn die Entscheidung des EuGH bedeutet, dass Behörden bei einem Antrag auf Asyl die individuellen Umstände einer Afghanin nicht genauer überprüfen müssen. Es reicht, weiblich zu sein und einen afghanischen Pass zu haben, um Anspruch auf internationalen Schutz zu erlangen.

Kurversion Afghanistan

Nadja Lorenz ist Anwältin und Expertin für Asylrecht mit einer Kanzlei in Wien. Sie sitzt in ihrem Büro, umgeben von Aktenstapeln. Immer wieder blättert sie ihn ihren Unterlagen, schaut nach genauen Daten oder Formulierungen. Sie weiß, was für ein mächtiges Instrument das Recht ist. 

Nadja Lorenz war es, die vor dem EuGH eine von zwei afghanischen Klägerinnen vertrat. Mit 13 Jahren war ihre Mandantin aus Afghanistan geflohen, das war im Jahr 2004. Ihr Vater sei aggressiv gewesen, ein Spieler mit Drogenproblemen. Immer wieder habe er damit gedroht, seine Töchter zu verkaufen, um seine Sucht zu finanzieren. Lange nahm seine Ehefrau, die Mutter der Mandantin, diese Drohungen nicht ernst. Bis ein Mullah, ein Religionsgelehrter, vor der Tür gestanden habe – um die 13-Jährige zu heiraten. Die Mutter konnte ihn abwimmeln, erbat sich einen Tag Bedenkzeit. Dann nahm sie ihre Töchter und floh in den Iran. 

Nadja Lorenz, 63, ist Expertin für Asylrecht. Im Oktober 2024 vertrat sie eine junge Afghanin vor dem Europäischen Gerichtshof – und erreichte ein wegweisendes Urteil
© Heribert Corn

Nach Österreich kam die Mandantin von Nadja Lorenz erst als junge Erwachsene, im Jahr 2015. Das Bundesamt für Fremdwesen und Asyl erkannte an, dass ihr bei einer Rückkehr nach Afghanistan wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten drohen würden, und gewährte subsidiären Schutz mit einem befristeten Aufenthaltstitel. Doch die junge Frau wollte Asyl. 

Als sich die Situation von Frauen in Afghanistan durch die Machtergreifung der Taliban verschärfte, nahm Lorenz diesen Kampf für sie auf. Die Anwältin ging nicht davon aus, dass er sie bis vor das oberste Gericht der Europäischen Union führen würde. „Das passiert nicht häufig – auch, wenn man den Beruf 30 Jahre macht“, sagt Lorenz. „Für mich war die Situation außerdem glasklar. Frauen in Afghanistan werden wie Tiere behandelt.“

Entscheidung des EuGH: Afghaninnen haben Anspruch auf Asyl

Eine besondere Rolle für die Entscheidung des EuGH spielte auch, dass es in Afghanistan keinen rechtlichen Schutz gegen häusliche Gewalt gibt. Wie auch der Mandantin von Nadja Lorenz droht vielen Frauen die Zwangsheirat, die das Gericht in seiner Entscheidung erstmals mit Sklaverei gleichsetzt. „Damit ist der EuGH meiner Argumentation gefolgt, das macht mich stolz“, sagt Lorenz. 

Doch wie viele Frauen von dem Recht auf Asyl Gebrauch mach können, ist unklar. „Die Meisten schaffen es nicht aus Afghanistan heraus“, sagt Lorenz. Omulbanin Sultani hat es geschafft. Die 21-Jährige, die sich Banin nennt, floh im Juli 2024 aus Afghanistan. Durch ein Stipendium der Linda Norgrove Foundation hat sie die Möglichkeit, ihr Medizinstudium in Schottland fortzusetzen – nachdem Universitäten in Afghanistan für Frauen geschlossen wurden.

„Ich hatte nie vor, Afghanistan zu verlassen“, sagt Banin. Sie hatte einen Studienplatz an der renommierten Kateb Universität in Kabul. „Ich stand kurz vor meiner Genetik-Klausur, habe Tag und Nacht dafür gelernt“, erinnert sie sich. „Und dann hieß es plötzlich: Frauen dürfen nicht kommen. Frauen dürfen überhaupt nicht mehr studieren.“

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Die Welt von Banin Sultani wurde aufgrund der Einschränkungen durch die Taliban kleiner. Ohne einen Zugang zum Internet hätte sie die Hoffnung verloren, wie sie sagt: „Aber das Netz wird von den Taliban noch nicht gut kontrolliert.“ Online lernte sie Englisch, fand über die Linda Norgrove Foundation einen Nachhilfelehrer in London. Er motivierte sie, sich für das Stipendium in Schottland zu bewerben. Und es klappte: Sultani erhielt eine Zusage. Gemeinsam mit 19 weiteren afghanischen Frauen darf sie ihr Studium in Großbritannien fortsetzen. 

Flucht durch Scheinehe: „Ich musste raus aus dieser Hölle“

Sultanis Vater stand dem Plan seiner Tochter kritisch gegenüber. „Mein Vater hat Afghanistan nie verlassen“, erzählt die 21-Jährige im Gespräch mit dem stern. „Er hat sich gefragt: Ist meine Tochter allein in einem fremden Land wirklich sicherer als hier bei mir?“ Am Ende sei es ihr Verlobter gewesen, der ihn überzeugen konnte. „Er hat meinen Vater regelrecht angefleht, mich gehen zu lassen. Er wusste: Ich musste raus aus dieser Hölle.“ 

Um Afghanistan zu verlassen, müssen Frauen in Begleitung ihres Vaters oder Ehemannes sein. Also ging sie eine Scheinehe ein: Ihr Angetrauter sollte sie bis nach Pakistan bringen. Doch an der Grenze musste Sultani den Taliban zunächst ins Auge sehen. „Ich schaute in dreckige Gesichter mit dunklen Augen und langen Bärten“, beschreibt sie und schüttelt sich. „Drei Stunden haben sie uns festgehalten und meinen neuen Ehemann zu unserer vorgetäuschten Reise befragt. Und ich durfte mir nicht anmerken lassen, dass es für mich um alles geht.“ 

Der Grenzübertritt gelang. In Pakistan organisierten die Frauen die nötigen Sprachzertifikate und Visa-Unterlagen. „Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, was meine Ausreise bedeutet: die Trennung von meiner Familie auf unbestimmte Zeit“, sagt Sultani. 

Mit dem Flugzeug ging es über Katar nach Edinburgh. Dort wurden sie von Politikern und den schottischen Medien empfangen. „Ich habe erst in Schottland begriffen, wie unfrei ich in Afghanistan war“, sagt Sultani. „Ich habe jeden Tag in Angst gelebt. Frauen werden in Afghanistan nicht respektiert, nicht wertgeschätzt. Die Hälfte der Bevölkerung wird unterdrückt, das hat eine Auswirkung auf das ganze Land.“ 

Sultani hofft, eines Tages als ausgebildete Ärztin in ihre Heimat zurückkehren zu können. „Afghanistan ist ein wunderschönes Land“, sagt sie. „Die Menschen sind freundlich und respektvoll. Nur die Regierung, die ist es nicht.“ 

Urteil zu Asyl: CDU kritisiert EuGH 

Dass eine Afghanin im Ausland einen Studienplatz und ein Visum erhält, ist die Ausnahme. Die meisten schutzbedürftigen Frauen geraten in die Mühlen des Asylsystems. Die Entscheidung des EuGH soll ihre Verfahren abkürzen, vereinfachen. Doch in den EU-Mitgliedstaaten sorgte sie für Kritik – auch in Deutschland. Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, sagte gegenüber der „Berliner Zeitung„: „Wenn es nach dem EuGH geht, haben jetzt alle 40 Millionen Afghanen einen Anspruch auf Schutz in Europa: Die Frauen bekommen Asyl, ihre Männer und Söhne kommen über den Familiennachzug nach.“ Mit seiner überzogenen Rechtsprechung habe sich der EuGH zum „Totengräber des individuellen Asylanspruchs in Europa“ gemacht. 

Dabei ist die Entscheidung nicht neu: Schon während der Herrschaft der Taliban in den Jahren zwischen 1996 und 2001 hatte der österreichische Verwaltungsgerichtshof Asyl für Afghaninnen gewährt – weil sie als Frauen schwerer Verfolgung ausgesetzt waren. In Schweden, Finnland und schließlich auch dem für seine restriktive Migrationspolitik bekannten Dänemark wird Afghaninnen zudem seit Ende 2022 generell Asyl gewährt. Ein sogenannter Pull-Effekt wurde dort bisher nicht verzeichnet.

World Press Photo Afghanistan 21.11

„Die Situation in Afghanistan ist heute krasser als während der letzten Herrschaft der Taliban“, sagt Anwältin Lorenz. „Mittlerweile gibt es kein Entkommen mehr.“ Sie kann die Kritik an dem Urteil nicht nachvollziehen. „Es gibt diesen Aufschrei, der EuGH schränke die Möglichkeiten der nationalen Gerichte und der Exekutive ein“, sagt sie. Dabei habe das Gericht nicht verboten, jeden einzelnen Fall zu prüfen. „Es hat nur gesagt: Bei einer weiblichen Antragstellerin aus Afghanistan führt diese Prüfung aufgrund der Situation im Land zu einem Anspruch auf Asyl. Das basiert auf den geltenden internationalen Richtlinien.“

Die Mandantin von Nadja Lorenz wartet noch immer darauf, dass ihr Recht auf Asyl nach der Grundsatzentscheidung des EuGH ausdrücklich anerkannt wird. Die Gerichte sind überlastet.