Am 7. Januar 2005 starb Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau. Sein Name ist zum Synonym für rassistische Polizeigewalt geworden. Zurecht? 

Am 7. Januar 2005 starb Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau. Sein Name ist zum Synonym für rassistische Polizeigewalt geworden. Zurecht? 

Es ist kurz nach 12 Uhr mittags als in Zelle 5, im Keller des Polizeireviers Dessau, ein Feuer ausbricht. Auf einer Matratze am Boden liegt, an Händen und Füßen mit Handschellen gefesselt, der Afrikaner Oury Jalloh. Ein Stockwerk höher piepst es laut im Zimmer des Dienstgruppenleiters Andreas S. Eine Lampe blinkt. Feueralarm. Aus der Wechselsprechanlage, die Geräusche aus der Gewahrsamszelle überträgt, ist ein Plätschern  zu hören. „Nicht schon wieder das Ding“, sagt Hauptkommissar Andreas S. und schaltet den Alarmknopf aus. 

Zehn Sekunden später piepst es erneut. Wieder wird der Alarm ausgeschaltet.  Ob von Andreas S. oder seiner Kollegin, bleibt ungeklärt. Eine Polizistin ruft im Zimmer des Dienstgruppenleiters an. Auch sie hat den Feueralarm gehört.  

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Erst jetzt macht sich Andreas S. auf den Weg in den Keller.  Zwei Treppen muss er runter. Unterwegs kehrt er noch einmal um, hat den Schlüssel vergessen. Er bittet einen Kollegen ihn zu begleiten. Nun laufen die Polizisten in den Keller, vorbei an einem Feuerlöscher –  ohne ihn mitzunehmen. Als sie die Zellentür aufschließen, schlägt ihnen dichter, schwarzer Rauch entgegen. Sie können nicht sehen, kaum atmen. 

„Scheiße, es brennt“, schreit Andreas S. 

Er rennt nach draußen, holt einen Feuerlöscher aus einem Streifenwagen, läuft zurück. Der Rauch quillt die Treppe hoch, nimmt ihm den Atem. Sein Kollege hüllt sich in eine Decke, will in die Zelle. Der Rauch ist zu dicht. 

Ein dritter Polizist versucht, die Flammen vom Hof aus mit einem Gartenschlauch zu löschen. 

Eine Polizistin alarmiert die Rettungsleitstelle. Sie ist so aufgeregt, dass sie nicht weiß, ob nur Feuerwehr oder auch ein Rettungswagen benötigt wird. Die Beamtin verliert, „den Überblick über das Geschehen und was ihre Aufgabe gewesen wäre.“ So wird es das Landgericht Magdeburg später in seinem Urteil festhalten. Das Geschehen ist oft rekonstruiert worden und lässt sich in Gerichtsakten- und urteilen, dem Bericht der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg und dem der Sonderermittler nachlesen.  

Jallohs Körper ist verbrannt, das Fleisch aufgeplatzt

Um 12.20 Uhr kommt die Feuerwehr. Es herrscht Chaos. Die Polizisten sagen den Rettern zwar, dass ein Mensch im Keller liegt, nicht aber in welcher Zelle. Zwei Feuerwehrleute, geschützt mit Brandhauben, Helmen und Atemschutzmasken, kämpfen sich durch den Rauch. Sie kehren um, wissen nicht, wo der Gefangene liegt, müssen nachfragen. Kurz darauf kriecht ein Feuerwehrmann in Schutzanzug und Atemmaske durch die Zelle 5. Plötzlich stößt er mit dem Knie gegen Jallohs Schulter. Er ist tot. Flammen lodern auf seinem Bauch. Der Feuerwehrmann löscht sie. Jallohs Körper ist verbrannt, das Fleisch aufgeplatzt. 

„Fassungslos“ habe ihn der Anblick gemacht, wird einer der Brandermittler später sagen.  Rechtsmediziner werden feststellen, dass die Gase, die Oury Jalloh eingeatmet hat,  mindestens 180 Grad heiß waren. Er sei sofort tot gewesen. Oder sein Todeskampf habe höchstens zwei Minuten gedauert. 

Am 7. Januar 2025 ist es 20 Jahre her, dass Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau ums Leben kam. Wie ist es möglich, dass ein Mensch in Obhut der Polizei auf so grausame Weise ums Leben kommt? 

Die „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ ist davon überzeugt, dass Polizisten den Schwarzafrikaner ermordet haben. Beamte hätten ihn zusammengeschlagen und angezündet. Die Mord-Theorie wird auch in Filmen und Büchern verbreitet, die jetzt zum Jahrestag erscheinen. Oury Jalloh ist zum Synonym für rassistische Polizeigewalt geworden. Zurecht? 

„Wenn sich die Polizei korrekt verhalten hätte, wäre dieser Mann noch am Leben“, sagt Jerzy Montag. Der Menschenrechtsanwalt saß von 2002 bis 2013 für die Grünen im Bundestag. Der Rechtsausschuss des Landtages Sachsen-Anhalt bestellte ihn und Manfred Nötzel – den früheren Generalstaatsanwalt von München – 2018 als Sonderermittler. 

Die beiden Juristen untersuchten den Fall auf Geheiß des Justizministeriums noch einmal, nachdem mehrere Gerichte geurteilt hatten. Im Sommer 2020 legten sie ihren über 300 Seiten dicken Ermittlungsbericht vor. Penibel listeten die Sonderermittler die Fehler der Polizei auf. Sie hätte Jalloh weder festnehmen, ihm Blut abnehmen, noch in die Zelle sperren dürfen. Hinweise für einen Mord fanden sie nicht. „Dafür, dass Oury Jalloh zusammengeschlagen und ermordet worden ist, gibt es keinen Beleg“, sagt Montag noch heute. „Der Mordvorwurf ist weder durch Tatumstände noch durch Tatsachen gestützt. Es ist eine reine Behauptung ins Blaue hinein. Das war sie von Anfang an, und das ist sie leider geblieben.“

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Banaler Grund für rechtswidrige Festnahme

Der Grund, warum Oury Jalloh an diesem Freitag im Januar 2005 gefesselt in der Gewahrsamszelle lag,  war banal. Die Polizei wollte seine Identität feststellen. Am Morgen hatten Frauen bei der Polizei angerufen. Die 1-Euro-Jobberinnen, die für die Stadtverwaltung Müll aufsammelten, fühlten sich „von einem  Ausländer belästigt“. Womöglich war die Belästigung ein Missverständnis. Oury Jalloh brauchte ein Handy, um zu telefonieren. Er war betrunken, stand unter Drogen, konnte sich nicht verständlich machen. Er lief den Frauen nach, griff einer an den Rucksack. 

Eine Streife mit zwei Polizisten war um 8.20 Uhr gekommen. Während ein Polizist mit den Frauen sprach, fragte sein Kollege Jalloh nach seinem Ausweis. 

„Warum Passport?“, er weigerte sich. 

Der Polizist wies ihn an, in den Streifenwagen zu steigen. Auf dem Revier wollte er, so würde der Polizist es später vor Gericht schildern, Jallohs Identität klären. „Das Rechtliche hätte man später noch machen können.“ 

Einer der Polizisten wird später vor Gericht sagen, dass es auf dem Polizeirevier in Dessau damals „gelebte Praxis“ war, Betrunkene „grundsätzlich mit auf die Wache“ zu nehmen. Als „Erziehungsmittel“. 

Die Polizisten zerrten Oury Jalloh mit Gewalt in den Streifenwagen, fixierten seine Hände auf dem Rücken. Auch das war rechtswidrig. Der Polizist wäre „verpflichtet gewesen“, ihm zu erklären, warum er seine Personalien verlangte und was ihm vorgeworfen wurde, wie die Sonderermittler später feststellen.

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INPOL-Auskunft zu den Akten gelegt  

Auf der Wache brachten die Beamten Oury Jalloh gegen 8.30 Uhr in das Arztzimmer im Keller. Sie durchsuchten ihn. In seinem Portemonnaie steckten 11,80 Euro und seine Duldungsbescheinigung. Beim Geburtsdatum war die letzte Jahreszahl verblichen. Der Anfangsbuchstabe des Straßennamens seiner Adresse war unleserlich. 

Dienstgruppenleiter Andreas S. rief deshalb um 8.44 Uhr beim Einwohnermeldeamt an. Er solle in zwei Stunden noch mal anrufen, baten ihn die Mitarbeiter, der Computer sei ausgefallen. „Nee, das ist zu spät“, sagte Andreas S. und rief beim Ausländeramt an, auch dort konnte man ihm nicht helfen.

Um 8.47 Uhr  gab er Jallohs Daten bei Inpol, einem polizeilichen Informationssystem, ein. Jalloh war dreimal erkennungsdienstlich behandelt worden: 2000, 2001 und 2002. Seine Personalien waren korrekt im System gespeichert. Spätestens jetztum kurz vor 9 Uhr,  hätte er entlassen werden müssen, weil seine Identität zweifelsfrei geklärt war. Doch Andreas S. gab die Informationen nicht an seine Kollegen weiter, legte „die Inpol-Auskunft zu den Akten“. Dann rief er den Polizeiarzt an. „Wir bräuchten dich mal.“ Von dem Telefonat existiert ein Tonbandmitschnitt. 

„Was haste denn?“, fragte der Arzt. 

„Na, eine Blutentnahme.“ 

„Na, dann mach ich das, dann komm ich mit rum.“ 

„Ja“, erwiderte der Dienstgruppenleiter. 

„Piekste mal nen Schwarzafrikaner.“ 

„Ach, du Scheiße.“ Arzt und Polizist lachten. 

„Da finde ich immer keine Vene bei den Dunkelhäutigen.“ 

„Na, bring doch ne Spezialkanüle mit.“ 

„Mach ich alles klar, bis gleich.“ 

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Rechtswidrige Blutentnahme

Kurz darauf, um 9.15 Uhr, nahm der Polizeiarzt Jalloh, der sich heftig wehrte, Blut ab. Die Polizisten holten sich auch dafür keine richterliche Genehmigung, obwohl das ihre Pflicht gewesen wäre. „Die Anordnung und Durchführung der Blutentnahme bei Oury Jalloh war somit objektiv rechtswidrig“, kritisieren Gerichte und Sonderermittler später.  

Gegen 9.15 Uhr wurde Jalloh in die Zelle gebracht. Auch das war rechtswidrig, aber üblich auf dem Polizeirevier in Dessau. Polizisten nahmen Menschen willkürlich in Gewahrsam. Über 150 Menschen wurden in der Zeit von August 2004 bis zum 7. Januar 2005 im Dessauer Revier in Gewahrsamszellen gesteckt – ohne Genehmigung des Amtsgerichts. 

Oury Jalloh hatte 2,98 Promille Alkohol und Kokain im Blut. Trotzdem hielt der Arzt ihn für gewahrsamstauglich – unter der Bedingung, dass er gefesselt sei. Drei Polizisten legten ihn mit dem Rücken auf die Matratze und fesselten Jalloh an Händen und Füßen mit Metallbügeln, die in die Wand eingelassen waren. Er konnte sich allerdings – wie Gerichte später rekonstruieren – durchaus aufrecht hinsetzen und mit seinen Händen in die Hosentaschen greifen. 

Um 10.01 Uhr schrieb einer der Polizisten, die Oury Jalloh am Morgen festgenommen hatte, eine Anzeige wegen Widerstands und Sachbeschädigung gegen ihn. Die Sonderermittler werden später betonen, dass Jallohs Gegenwehr ihrer Auffasung nach kein Widerstand war, weil alle Polizeimaßnahmen gegen ihn rechtswidrig gewesen seien. 

Um 10.03 Uhr, um 10.37 Uhr und um 11.05 Uhr sahen die Polizisten nach dem Gefangenen. „Warum, warum?“, schimpfte Oury Jalloh bei der letzten Kontrolle um 11.45 Uhr. Er wisse schon, warum er in der Zelle sei, antwortete ihm die Polizistin. Eine Viertelstunde später brach das Feuer aus. 

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Das Rätsel um das Feuerzeug

Der tödliche Brand wurde unverzüglich dem Innenministerium gemeldet. Die Behörde ordnete an, dass die Ermittlungen nicht durch die Polizei in Dessau geführt werden dürften. Die Kripo aus dem 140 Kilometer entfernten Stendal rückte an. Außerdem sicherten Beamte des Landeskriminalamtes Spuren. Anders, als noch heute behauptet wird, waren Brandermittler am Tatort. Sie suchten auch nach Brandbeschleunigern. 

Noch am selben Tag vernahm die Kripo die Polizisten des Reviers. Der Beamte, der Oury Jalloh in die Gewahrsamszelle gesperrt hatte, verwunderte die Ermittler mit einer seltsamen Aussage. Er könne sein Feuerzeug vorzeigen, sagte er unvermittelt. Von einem Feuerzeug war bis zu diesem Zeitpunkt allerdings noch gar nicht die Rede, Spuren wurden noch gesichert. 

Hatte der Polizist sein Feuerzeug beim Gerangel mit Oury Jalloh in der Zelle verloren und wollte nun vertuschen, dass der Gefangene es womöglich gefunden sich damit angezündet hatte? Die Gerichte halten das später für möglich. Ob es so war, bleibt ungeklärt. 

Ein paar Wochen nach dem Tod Oury Jallohs wurden Führungskräfte der Polizei auf einer Besprechung ermahnt, künftig dafür zu sorgen, das Festgenommene gründlicher durchsucht würden. „Schwarze brennen eben mal länger“, sagte ein Polizeioberrat, also ein hoch dotierter Beamter des höheren Dienstes. Ein Kollege meldete den Kommentar. Gegen den Oberrat wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet; es endete mit einem Verweis. 

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58 Verhandlungstage vor dem Landgericht Dessau

Mehr als zwei Jahre nach dem Tod von Oury Jalloh begann im März 2007 vor dem Landgericht Dessau-Roßlau der Prozess gegen Dienstgruppenleiter Andreas S. wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Sein Kollege musste sich vor Gericht verantworten, weil er Oury Jalloh nicht gründlich durchsucht hatte. 

58 Tage verhandelte das Gericht. Die Kammer widmete sich auch dem Leben von Oury Jalloh. Er wurde vermutlich 1969 in Guinea geboren, war also Mitte 30, als er starb. Im Oktober 1999 war er vor dem Bürgerkrieg in Sierra Leone nach Deutschland geflohen. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Jalloh konnte weder lesen noch schreiben, ohne Perspektive fing er an zu trinken, nahm Drogen, verkaufte welche, wurde verurteilt. Er zeugte ein Kind mit einer Deutschen, die das Baby zur Adoption freigab. 

Im Dezember 2008 sprach das Landgericht die Polizisten frei. „Es lag kein Wille vor, Oury Jalloh körperlich zu misshandeln oder seine Gesundheit zu beschädigen.“ Auch der zweite Polizist sei ohne Schuld. Das Gericht konnte nicht „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ feststellen, ob Oury Jalloh das Feuerzeug am Körper trug und wo.

Trotzdem fand der Vorsitzende Richter deutliche Worte. „Das, was hier geboten wurde, war kein Rechtsstaat mehr, und Polizeibeamte, die in besonderem Maße dem Rechtsstaat verpflichtet waren, haben eine Aufklärung verunmöglicht.“ Ein Zitat, das Aufsehen erregte. 

In der schriftlichen Urteilsbegründung wiederholte der Richter seine Vorwürfe allerdings nicht. Im Gegenteil. Er betonte, dass die Polizisten – bis auf eine Beamtin – glaubwürdig gewesen seien. Die Staatsanwaltschaft Dessau leitete wegen der Äußerung trotzdem Ermittlungsverfahren gegen acht Polizisten  wegen Verdachts der Falschaussage  ein. Alle Verfahren wurden eingestellt. Die unglaubwürdige Beamtin war psychisch schwer angeschlagen, hatte sich geirrt, aber nicht gelogen. Im Oktober 2010 hob der Bundesgerichtshof das Urteil „wegen lückenhafter und nicht nachvollziehbarer Beweiswürdigung“ auf und verwies den Fall an das Landgericht Magdeburg. 

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Nicht mal der Hinweis auf Brandbeschleuniger

Nach 67 Verhandlungstagen verurteilte die Kammer Andreas S. im Dezember 2013 zu einer Geldstrafe von 10.800 Euro, weil er den Gefangenen hätte besser überwachen lassen müssen. Er hätte eine Wache vor der Zelle postieren sollen. Zumal in der Zelle schon mal ein Mann gestorben war. Für einen Mord fand die Kammer keinen Hinweis. Jalloh habe sich selbst angezündet. „Eine Brandlegung durch andere Personen schied zur Überzeugung der Kammer aus.“ In der Zelle sei „nicht einmal ein Hinweis auf Brandbeschleuniger“ gefunden worden. Die Polizisten hätten sich auch nicht gegenseitig gedeckt. „Eine weitgezogene ,Mauer des Schweigens‘ hat die Kammer bei den Zeugen nicht festgestellt.“ 

Fast drei Jahre später, Ende 2014,  verwarf der Bundesgerichtshof die Revision, die Andreas S. und Jallohs Familie eingelegt hatte. Das Urteil wurde rechtskräftig. 

Es kehrte dennoch keine Ruhe ein. Auf dem Polizeirevier in Dessau waren schon mal zwei Männer unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen: Jürgen Rose und Mario Bichtemann. Bichtemann war sogar in der gleichen Zelle wie Oury Jalloh gestorben. Auch damals war Andreas S. Dienstgruppenleiter gewesen. Ein Polizist sei ein bekannter Neonazi, behauptete ein Informant gegenüber der Presse. Er habe Oury Jalloh angezündet. Die Staatsanwaltschaft leitete neue Ermittlungen ein. „Dabei hat sich herausgestellt, dass die Hinweise auf völlig haltlosen Behauptungen“ beruhten. Ein Justizwachtmeister beschuldigte einen anderen Polizisten, der früher Feuerwehrmann gewesen war, Oury Jalloh angezündet zu haben. Die Aussagen seien auf seinen „exzessiven Alkoholkonsum in Kombination mit psychischen Belastungen“ zurückzuführen, stellte die Generalstaatsanwaltschaft später fest. Im Laufe der Jahre wurde eine zweistellige Zahl an Gutachten erstellt. Es gab Gutachten und Gegengutachten.  Bei Ausbruch des Feuers sei Oury Jalloh bewusstlos, wenn nicht gar tot gewesen, behauptete ein Gutachter. Dafür sprächen seine niedrigen Adrenalinwerte. Ein anderer Gutachter widersprach: Bei einem sofortigen Tod erhöhe sich der Adrealinwert nicht. Brandgutachter vertraten die Auffassung, dass die Hitze bei dem Brand in der Zelle ohne Brandbeschleuniger unmöglich gewesen sei. 

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Ermittlungen wegen Mordes gegen zwei Polizisten

2017 leitete die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau plötzlich doch ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes gegen zwei Polizisten ein. Einer der Polizisten war sechs Wochen vorher gestorben. Die Polizistin hatte ein Alibi. Die Staatsanwaltschaft Halle übernahm das Verfahren und stellte es ein. „Bloße Vermutungen und Möglichkeiten begründen keinen Anfangsverdacht.“ 

Nach diesem Konflikt zwischen den Staatsanwaltschaften wies das Justizministerium Sachsen-Anhalt die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg 2017 an, den Fall noch einmal zu prüfen. Die Generalstaatsanwälte gaben ein neues Brandgutachten in Auftrag und sichteten alle Akten. Sie prüften auch die Todesfälle Rose und Bichtemann. 

Bichtemann war 2002 in jener Zelle 5 gestorben. Er war betrunken vor einem Geschäft in der Innenstadt gefunden worden. Deshalb war er in die Zelle gesteckt worden. Als die Beamten ihn nach 16 Stunden entlassen wollten, war er tot, gestorben an einem unentdeckten Hirnschädeltrauma. Das Ermittlungsverfahren gegen den Polizeiarzt, der ihn für gewahrsamtauglich befunden hatte,  war eingestellt worden. Laut Gutachten sei Bichtemann nicht zu retten gewesen. „Anhaltspunkte dafür, dass Polizeibeamte Herrn Bichtemann im Polizeirevier körperlich misshandelt und dadurch die schwere zum Tode führende Kopfverletzung verursacht haben könnten, sind unter keinen Umständen erkennbar“, stellt die Generalstaatsanwaltschaft 2019 in ihrem Bericht klar. Bichtemann selbst hatte einem Zeugen erzählt, dass er „am Bahnhof zusammengelegt worden“ – also verprügelt – worden sei. Seine Verletzung rührten vermutlich daher. 

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Noch mehr Todesfälle auf der Polizeiwache Dessau

Der zweite Todesfall lag mehr als 20 Jahre zurück. 

Im Dezember 1997 hatte Hans-Jürgen Rose betrunken einen Unfall verursacht. Auf der Polizeiwache in Dessau war ihm Blut abgenommen worden. Gegen 3.30 Uhr war er entlassen worden. Anderthalb Stunden später, um kurz nach 5 Uhr, wurde er schwer verletzt vor einem Wohnblock in der Nähe des Reviers gefunden. Er starb später im Krankenhaus. Die Staatsanwaltschaft hatte nach seinem Tod Schlagstücke von Polizisten beschlagnahmt, um sie auf  DNA-Spuren zu untersuchen. Es waren keine gefunden worden. Ein Zeuge hatte gesehen, wie Rose das Polizeirevier verlassen hatte – zu Fuß. „Dieser Zeugenaussage ist deswegen ein besonderes Gewicht zuzumessen, weil der Zeuge nicht unmittelbar zur Polizei gehört.“ Als er gefunden wurde,  war Rose so schwer verletzt, dass er nicht mehr hätte gehen können. Womöglich sei Rose im Treppenhaus aus dem Fenster des Wohnhauses gestürzt. Oder von Unbekannten misshandelt worden, schlussfolgerten die Staatsanwälte. 

Auf über 100 Seiten widerlegte die Generalstaatsanwaltschaft die Thesen der Initiative. Das Feuer sei „durch Oury Jalloh selbst ohne Einsatz eines Brandbeschleunigers gelegt worden. Beweistatsachen für eine Fremdtötung  oder gar für ein Mordkomplott sind nicht vorhanden. Es mangelt sowohl an einem Motiv als auch an der zeitlichen Gelegenheit dafür. Bei der These ‚Oury Jalloh, das war Mord‘ handelt es sich um eine rein spekulative Mutmaßung.“

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Landtag setzt Sonderermittler ein

2020 setzte der Landtag Sachsen-Anhalt zwei Sonderermittler ein, den Menschenrechtsanwalt Jerzy Montag und den ehemaligen Münchener Generalstaatsanwalt Manfred Nötzel, den die Süddeutsche Zeitung mal „Deutschlands erfolgreichsten Staatsanwalt“ nannte. Der Fall sollte noch einmal „mit einem unabhängigen blick von außen aufgearbeitet werden“. 

Bei den Asservaten entdeckt Jerzy Montag ein kleines Telefonbuch, das Oury Jalloh bei sich getragen hatte. Als er darin blätterte, fand er ein Dokument vom Amtsgericht, ausgestellt auf Oury Jalloh. Die Polizisten hatten es übersehen. Die Sonderermittler schreiben: „Zu bemängeln ist, dass die Habe von Oury  Jalloh nicht ordentlich durchsucht worden ist. Sonst wäre die sich bei der Habe befindende Besuchserlaubnis des AG Dessau … gefunden und mit hoher Wahrscheinlichkeit Jalloh entlassen worden.“ Das Dokument hätte Oury Jallohs Leben retten können.

Jallohs Bruder reichte Verfassungsbeschwerde ein, um zu erreichen, dass die Ermittlungen wieder aufgerollt würden. Das Bundesverfassungsgericht nahm seine Beschwerde 2023 nicht zur Entscheidung an. „Die Strafverfolgungsbehörden haben umfassend ermittelt.“ Vier Staatsanwaltschaften, darunter die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg, der Generalbundesanwalt, zwei Schwurgerichte, ein Oberlandesgericht, der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht haben sich mit dem Tod von Oury Jalloh beschäftigt. Nun ist Jallohs Bruder vor den Europäischen Gerichtshof gezogen. Bis es zu einer Entscheidung kommt, könnte es Jahre dauern. 

Dienstgruppenleiter Andreas S. war nach Oury Jallohs Tod vier Jahre lang vom Dienst suspendiert. 2009 kehrte er zur Polizei zurück, kümmerte sich fortan um technische Projekte. Er bekam Leukämie, hatte mehrere Schlaganfälle. Das dienstrechtliche Verfahren gegen ihn zog sich bis 2020 hin. Dann stellte das Verwaltungsgericht Magdeburg klar, dass er keine weiteren Konsequenzen zu fürchten habe. 

Es tue ihm leid, dass er Oury Jalloh nicht rechtzeitig habe helfen können, sagte Andreas S. im Verfahren. Mit der Presse will er nicht reden.