Die Biodiversität schwindet, beklagen Experten auf der aktuellen Naturschutzkonferenz. Ein Biologe erklärt, wie sich die Vielfalt der Natur messen und verbessern lässt.
Noch bis Anfang November sprechen Experten auf der Weltnaturkonferenz im kolumbianischen Cali darüber, wie sich der Artenschwund aufhalten lässt. Lars Tappert von der dänischen Unternehmensberatung Ramboll stellt auf der Konferenz eine neue Methode vor, mit der sich Biodiversität weltweit messen und verbessern lässt.
Herr Tappert, wie steht es um unsere Artenvielfalt?
Die neuesten Zahlen, die der WWF veröffentlicht hat, sind alarmierend. In den letzten 50 Jahren ist die durchschnittliche Größe der beobachteten Wildtierpopulationen um 73 Prozent zurückgegangen, wie der Living Planet Index (LPI) zeigt. Derzeit findet das größte Artensterben seit der Auslöschung der Dinosaurier statt. Aber nicht nur einzelne Arten drohen zu verschwinden, ganze Artengruppen zeigen hohe Verluste. Beispielsweise Insekten, deren Biomasse massiv abgenommen hat, oder Wirbeltiere, deren Individuenzahl drastisch abnimmt.
Ist denn jede Art so wichtig?
Natürlich sind schon immer Arten ausgestorben, und ihre Nische wird im Laufe der Zeit durch andere Arten ersetzt. Aber irgendwann ist ein Kipppunkt erreicht. Der Living Planet Index und ähnliche Kennzahlen zeigen eindeutig, dass die Natur in beunruhigendem Tempo schwindet. Auch wenn manche Veränderungen zunächst unbedeutend wirken, summieren sich ihre Auswirkungen und können dann größere, spontane Veränderungen auslösen. Sobald diese Veränderungen einen kritischen Punkt erreichen, wird der Prozess selbstverstärkend und kann zu erheblichen, oft plötzlichen und vermutlich unumkehrbaren Umbrüchen führen. Dies bezeichnet man als einen Kipppunkt. Die Folgen des Klimawandels verschärfen das Problem zusätzlich. Mehr noch: Klimawandel und der Verlust der Artenvielfalt verstärken sich gegenseitig.
Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von schwindender Biodiversität. Was bedeutet der Begriff eigentlich?
Der Begriff Biodiversität ist schwer greifbar. Er bezeichnet nicht nur das Vorkommen einzelner Arten, sondern auch deren genetische Vielfalt und die Variabilität von Lebensräumen. Das macht die Bewertung sehr komplex und aufwendig. Im Gegensatz dazu ist eine Bewertung etwa bei Klimaschutzmaßnahmen einfacher. Hier hat sich die Kennzahl CO2-Äquivalent etabliert. So eine Kennzahl gibt es bei der Biodiversität nicht. Biodiversität 11.55
Wie lässt sich Biodiversität dennoch erfassen?
Ein Beispiel, wie man die Artenvielfalt an einem Standort messen kann, ist die von Natural England entwickelte Biodiversity Metric. Im Gegensatz zu Europa ist in England seit Anfang 2024 das Prinzip des „Biodiversity Net Gain“ (BNG) gesetzlich verankert. Nach dem britischen Umweltgesetz müssen Bauprojekte einen Biodiversitätsgewinn von mindestens zehn Prozent nachweisen, was bedeutet, dass ein Standort nach der Entwicklung in einem besseren ökologischen Zustand sein muss als zuvor.
Nach dem britischen Umweltgesetz müssen Bauprojekte einen Biodiversitätsgewinn von mindestens zehn Prozent nachweisen
Zum Beispiel?
Nehmen Sie eine Reihe von Bäumen, wie man sie aus Parks oder von Alleen kennt. Klassischerweise findet man darunter einen gemähten Rasen, die Bäume stehen relativ weit auseinander, und es gibt keine Büsche zwischen ihnen. Aus ökologischer Sicht nicht sonderlich wertvoll, weil die Tiere dort keine Rückzugsorte finden. In diesem Fall lässt sich die Qualität dadurch erhöhen, dass unterhalb dieser Baumreihe ein natürlicher Vegetationsstreifen entstehen kann, beispielsweise durch Hecken, die die Lücken zwischen diesen Bäumen schließen. So entstehen unterschiedliche ökologische Nischen, die vielfältiger sind als die ursprünglichen.
Biodiversität und Schiffahrt 15.30
Welche weiteren Faktoren gehen darin ein?
Für das BNG wird die biologische Vielfalt in standardisierten Biodiversitätseinheiten gemessen. Neben der Fläche wird beispielsweise die strategische Wichtigkeit und die Seltenheit eines Lebensraums berücksichtigt. Darüber hinaus verwendet man sogenannte „Habitat condition sheets“, um den Zustand eines Habitats zu bewerten und zu verbessern.
Gut, aber was für England gilt, nützt ja dem Rest der Welt nichts …
Tatsächlich existiert derzeit nur in England eine gesetzliche Verpflichtung zu einem Nettogewinn. Aber auch in Deutschland und Europa müssen größere Unternehmen Anfang nächsten Jahres erstmalig über ihren Einfluss auf und ihre Abhängigkeiten von Biodiversität berichten. Wir als Beratungsunternehmen bekommen dazu momentan sehr viele Anfragen – auch weil Unternehmen den Vorwurf von Greenwashing vermeiden wollen. Deshalb haben wir die Methode global anwendbar gemacht.
Ist diese Metrik schon nutzbar?
Ja, die Methode haben wir am 28. Oktober auf der Weltnaturschutzkonferenz COP16 in Cali den Delegierten präsentiert und stellen sie seither der breiten Öffentlichkeit zur freien Nutzung zur Verfügung. Dies ist sicherlich nur ein Anfang für eine messbare Bewertung der Biodiversität, aber wir sind damit jetzt einfach mal einen Schritt vorangegangen. Darauf kann man nun aufbauen. Und nur auf solch einer Grundlage können Unternehmen ihre Aktivitäten hin zu einer besseren Biodiversität dokumentieren.
Aber nicht nur Unternehmen sind in der Pflicht …
Laut einem Beschluss der letzten Weltnaturkonferenz muss jedes Land eine eigene Biodiversitätsstrategie entwickeln – die vorliegende deutsche Version stammt noch aus dem Jahr 2007. Und auch das von der EU beschlossene Renaturierungsgesetz fordert eine ökologische Aufwertung der Habitate. Es gibt also großen Bedarf für solche messbaren Werte auf allen Ebenen.