Auf Social Media erzielen Themen um psychische Erkrankungen viele Klicks. Darunter: die dissoziative Identitätsstörung, bei der vermeintlich mehrere Personen in einem Körper leben.

Auf Social Media erzielen Themen um psychische Erkrankungen viele Klicks. Darunter: die dissoziative Identitätsstörung, bei der vermeintlich mehrere Personen in einem Körper leben.

Auf Social Media, in Instagram-Posts oder auf YouTube sprechen derzeit immer mehr Menschen darüber, wie ihr Leben mit einer psychischen Störung aussieht. Dabei taucht ein Begriff besonders häufig auf: dissoziative Identitätsstörung. Um die Krankheit, früher bekannt unter „Multiple Persönlichkeitsstörung“ oder kurz „Multiple Persönlichkeit“, ranken sich viele Mythen, mit denen Betroffene zunehmend aufräumen wollen.

Mehrere Persönlichkeiten, das klingt nach Norman Bates aus Hitchcocks „Psycho“ oder anderen filmreifen Psychopathen. Doch damit hat die Diagnose in der Realität wenig zu tun. Vielmehr handelt es sich um ein Störungsbild, bei dem, vereinfacht gesagt, mehrere Persönlichkeitsanteile abwechselnd die Kontrolle über das Denken und Handeln einer Person übernehmen. In vielen Fälle ist es die Folge eines Traumas. 

Was ist die dissoziative Identitätsstörung?

Der Name „Multiple Persönlichkeitsstörung“ wird heute nicht mehr verwendet, da es sich eben nicht um eine Persönlichkeitsstörung handelt. Stattdessen hat man es bei der dissoziativen Identitätsstörung, kurz DIS, mit der schwersten Form einer dissoziativen Störung zu tun. Der Begriff der Dissoziation kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „trennen“ oder „schneiden“. In der Psychologie beschreibt er einen Zustand, bei dem Denken, Fühlen und Handeln voneinander getrennt werden.

Das ist zunächst nichts Ungewöhnliches, sondern die normale Reaktion des Gehirns auf überfordernde Situationen. Vielleicht haben Sie es selbst schon mal erlebt, dass Sie in Extremsituationen das Gefühl hatten, neben sich zu stehen oder sich von außen zu betrachten, „wie in einem Film“. Zu einer Störung wird es erst dann, wenn sich dieser Zustand chronifiziert, das Gehirn sich also nicht mehr erholen kann. Bei der seltenen DIS geht das so weit, dass das Identitätsempfinden tangiert ist. Betroffene fühlen sich dann wie unterschiedliche Personen zu verschiedenen Zeiten.

Dr. Julia Schellong, Leiterin des Referats Psychotraumatologie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) erklärt das als „ein unterschiedliches Selbstbild zu verschiedenen Zeiten. Das kann so weit gehen, dass es unterschiedliche moralische Vorstellungen und Erinnerungen, Emotionen und auch Symptome geben kann“. Vereinfacht gesagt bedeutet das: Einer dieser Persönlichkeitsanteile würde vielleicht besonders gut schwimmen, ein anderer hätte aber Angst vor Wasser – und diese Anteile könnten sich im Normalfall nicht daran erinnern, dass der andere überhaupt existiert. 

Im Gegensatz zu leichteren Formen dissoziativer Störungen können die Anteile des Selbst bei einer DIS in der Regel nicht aufeinander zugreifen. Betroffene berichten im Internet sogar von unterschiedlichen Altersstufen und Fähigkeiten der Anteile.  

Warum ist die Diagnose so umstritten?

Hier setzt auch die Kontroverse um das Störungsbild an. Denn das Konzept der DIS berührt mit der Identität und dem Gedächtnis gleich zwei grundlegende Einheiten der Psychologie, die aktuell intensiv erforscht werden. Gestritten wird etwa über die Frage, ob Erinnerungen überhaupt vollständig vergessen und dann „zurückgeholt“ werden können. Immerhin: Ob die Krankheit als solche überhaupt existiert, wird selbst von Kritikern nicht mehr bestritten. Die DIS ist sowohl im DSM 5, dem amerikanischen Diagnosemanual, welches psychische Erkrankungen typisiert und beschreibt, als auch dem ICD10, seinem deutschen Gegenstück, als eigene Störung geführt.  

Es gibt auch neurophysiologische Erkenntnisse, die die Diagnose stützen. Zum Beispiel konnte im MRT bei Betroffenen ein geringeres Hippocampusvolumen festgestellt werden. Das ist ein Hirnareal, welches vor allem für das Langzeitgedächtnis zuständig ist. Umstritten ist hingegen, ob eine DIS immer mit traumatischen Erlebnissen verknüpft ist. Auch ob und in welchem Ausmaß dissoziative Störungen sozial ansteckend sein können und welchen Einfluss die Darstellung in Medien und Internet haben kann, ist derzeit Gegenstand der Forschung.

Protokoll Tessa 6:16

Wie entsteht eine DIS? 

Dazu gibt es verschiedene Modelle. Das wahrscheinlich bekannteste von ihnen ist das posttraumatische Modell, das besagt, dass die dissoziative Identitätsstörung die Folge einer langanhaltenden und schweren Traumatisierung in der frühen Kindheit ist. Dieser Gedanke geht maßgeblich auf den französischen Psychiater Pierre Janet (1859-1947) zurück, der die Persönlichkeit als ein „Bündel von Systemen“ begriff. Infolge des Traumas, von dem das frühkindliche Gehirn überfordert ist, können sich diese Systeme demnach nicht zu einer geschlossenen Identität zusammensetzen, und das Bewusstsein wird fragmentiert. 

Das soziokognitive Modell hingegen geht davon aus, dass die Störung umgebungsinduziert ist und zum Beispiel durch extreme Schlafstörungen ausgelöst wird. Laut Expertin Julia Schellong versucht die Wissenschaft inzwischen, die beiden Theorien miteinander in Einklang zu bringen und ein verbindendes Modell zu schaffen. Hier besteht allerdings noch großer Forschungsbedarf.

Wie äußert sich eine DIS? 

Eine dissoziative Identitätsstörung kann eine Reihe an ganz unterschiedlichen Symptomen hervorbringen, weshalb auch die Diagnostik so große Probleme bereitet. Jemand, der sich mit diesem Prozess auskennt, ist Tanja Wyschka. Sie arbeitet als psychotherapeutische Leiterin im Traumazentrum in Durbach (Baden-Württemberg) und hat daher immer wieder mit Patienten zu tun, die eine jahrelange Leidensgeschichte mitbringen. Manche von ihnen haben bereits zahlreiche Diagnosen, Medikamente und Therapien erhalten, die kaum bis gar nicht angeschlagen haben.

Ein erster Hinweis auf eine DIS sind für Wyschka Gedächtnislücken, die sich durch einfache Vergesslichkeit nicht erklären lassen. Betroffene vergessen zum Beispiel ganze Tage oder Wochen oder finden Zettel in fremder Handschrift bei sich zu Hause. Besonders groß sind die Erinnerungslücken in der frühen Kindheit. Außerdem leiden die Patienten oft an einer ganzen Reihe anderer psychischer Störungen, die Begleiterscheinungen ihrer unerkannten DIS sind. Dazu können zum Beispiel Depressionen oder Essstörungen gehören. Oder aber Symptome wie Krampfanfälle, ohne dass eine Epilepsie festgestellt werden kann. 

Es kann auch dazu kommen, dass Betroffene davon berichten, Stimmen zu hören und dadurch mit einer Schizophrenie fehldiagnostiziert werden. Doch Personen mit Schizophrenie nehmen die Stimmen, die sie hören, als von außen kommend wahr. Patienten mit einer DIS haben hingegen haben das Gefühl, die Stimmen, die sie hören, kämen von ihnen selbst. Sie gehören zu den Anteilen, auf die sie keinen Zugriff haben. 

Psychosen wie schizophrene Störungen werden in der Regel mit Psychopharmaka behandelt, die bei einer DIS keine Wirkung zeigen würden. Doch selbst mit einer richtig gestellten Diagnose ist die Leidensgeschichte der Betroffenen noch lange nicht abgeschlossen.

Ist die DIS heilbar?

Prinzipiell sei die DIS heilbar, betont Julia Schellong im Gespräch mit dem stern. Heilung in diesem Sinne bedeutet, dass die Identitätsanteile miteinander fusioniert werden können zu einer „normalen“ Identität. Theoretisch ist das auch nicht unwahrscheinlich, Wyschka spricht von einer bis zu 80-prozentigen Chance auf Integration mittels einer speziellen Therapie. Selbst der Hippocampus kann sich regenerieren, 

Allerdings sind die reellen Chancen individuell sehr unterschiedlich, was an einer ganzen Reihe an Faktoren liegt. Zum einen liegen häufig Zweiterkrankungen vor. Hinzu kommt, dass die typische Therapiedauer mehrere Jahre beträgt. Die Therapie besteht aus einem Mix aus ambulanter Psychotherapie und immer wieder stationären Aufenthalten, die Kostenübernahme durch die Krankenkassen ist meist kompliziert. 

Außerdem kann es sein, dass eine Integration gar nicht das individuelle Therapieziel ist. Denn dies würde bedeuten, mit dem intensiven Trauma konfrontiert zu sein, welches das Gehirn in verschiedenen Anteilen verstauen musste. Für manche ist das womöglich eine zu große Last. Deshalb ist das Therapieziel mitunter eher, den Austausch zwischen den Anteilen zu verbessern und den Alltag zu erleichtern. 

Die meisten Personen, die sich auf Social Media zu dem Thema äußern, geben an, dass sie sich für eine Entstigmatisierung ihrer Krankheit einsetzen. Denn die teilweise immer noch verbreitete Darstellung in den Medien, Personen mit einer DIS seien verrückt oder gar gefährlich, sorgt vor allem dafür, dass traumatisierte Personen Ausgrenzung erfahren. Allerdings sind die Auswirkungen, die die Darstellung der Störung auf Social Media hat, ein Objekt der Forschung, zu dem es noch nicht viele Erkenntnisse gibt.