Sterilisierung wider Willen? Die Rechtslage ist eindeutig: Auch behinderte Menschen müssen "ja" sagen zum Eingriff. Doch die Praxis sieht ganz anders aus.

Sterilisierung wider Willen? Die Rechtslage ist eindeutig: Auch behinderte Menschen müssen „ja“ sagen zum Eingriff. Doch die Praxis sieht ganz anders aus.

Eine junge Frau schläft unter Vollnarkose. Mit einem Skalpell machen die Ärzte kleine Schnitte auf ihrer Bauchdecke, die Eileiter veröden sie mit Hitze. Nur eine halbe Stunde dauert der Eingriff – und die 21-Jährige kann niemals eigene Kinder bekommen. Sie wird nie ganz verstehen, was sich da eigentlich abgespielt hat oder was das für ihr Leben bedeutet. Denn die Frau ist geistig behindert. 

Was nach einer Geschichte aus den dystopischen TV-Serien Blackmirror oder The Handmaids Tale klingt, ist ein Fall, der sich im Oktober 2005 in Ravensburg abgespielt hat. Eine Mutter macht sich damals Sorgen, weil ihre behinderte Tochter Sex hat – also beantragt sie eine Sterilisation. Präventiv. Das Landgericht kommt schließlich zu dem Urteil, dass das Einsetzen einer Spirale nicht ausreicht und die junge Frau das Konzept von Verhütung, Schwangerschaft oder Mutterschaft nie ganz verstehen wird. Deshalb sei „nur durch eine Sterilisation (…) eine sichere und zumutbare Empfängnisverhütung gewährleistet“.

Der Fall in Ravensburg ist kein Einzelfall in Deutschland. Dabei heißt es auf der Website des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: „Jeder Mensch hat das Recht eine Familie zu gründen“. Für viele Menschen mit einer geistigen Behinderung ist das aber noch lange keine Realität. Dass Menschen mit Beeinträchtigung Kinder bekommen, überhaupt eine Sexualität haben, ist immer noch ein gesellschaftliches Tabu – oder für viele noch gar nie ein Thema gewesen. 

Sterilisierung von Behinderten ist in Deutschland Alltag

Behinderte Menschen, die in Deutschland im Jahr 2024 sterilisiert werden. Wie kann das noch erlaubt sein? Um das zu verstehen, muss man viel weiter zurück gehen. Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis. Mit Sex kommt Verantwortung – und dafür braucht es ein bestimmtes Grundwissen. Spätestens in der achten Klasse lernen Jugendliche, Kondome über Bananen zu ziehen, Binden zu verwenden, und, dass Sex zu Krankheiten und zu einem Kind führen können. Auch wenn der Sexualkunde-Unterricht in Deutschland noch einiges aufzuholen hat – er findet statt. 

Doch Aufklärung gibt es nicht für alle. In Deutschland leben 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen. Knapp 200.000 mit einer geistigen Behinderung wohnen in einer besonderen Wohnform, also in einer Einrichtung oder Wohnung mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung. 266.000 weitere wohnen in einer eigenen Wohnung, bekommen aber Behindertenhilfe im Alltag, wenn nötig. „Für viele dieser Menschen spielt sich das Leben hauptsächlich zuhause oder in der Einrichtung ab. Sie sind dadurch nicht selbstständig mobil und isoliert von der Außenwelt“, erklärt die Sexualpädagogin Eva Sindram. Das könne schwerwiegende Folgen haben. „Über sexuelle Selbstbestimmung wird in vielen Familien und Einrichtungen nicht genug aufgeklärt“, sagt sie. Frage man Mitarbeitende in Einrichtungen, ob Sexualität ein Thema bei jungen Menschen zwischen 15 und 25 Jahren wäre, würden immer noch zu viele antworten: „Nein, die sind noch nicht so weit“. Konzepte zur sexuellen Bildung gäbe es selten. 

Das führe dazu, dass die Betroffenen wenig Verständnis für ihre Sexualität haben. „Oft fehlen schon die Begriffe für die eigenen Körperteile. Ein 50-jähriger Mann nannte seinen Penis immer nur unterhalb vom Bauchnabel“, so Sven Jennessen, Sonderpädagoge und Leiter des Forschungsprojekts ReWiks: „Sexualität wird Menschen mit Behinderung entweder komplett abgesprochen oder sie werden übersexualisiert“. Geschichten von Menschen, die in Einrichtungen Sex im Gebüsch haben oder onanierend über den Flur laufen, seien keine Seltenheit. „Deren sexuellen Bedürfnisse sind ganz normal. Das Problem ist, dass es keinen Raum gibt, sie auszuleben“, so Jennessen.

Gerade diese Stereotype seien tief verankert – vor allem bei den Betroffenen. Das merkt Sindram immer wieder. Neben ihrer Beratungstätigkeit betreut sie mehrere Frauengruppen. Häufig falle in Gesprächen der Satz „Ich darf keine Kinder bekommen“, oder „Ich kann keine Kinder bekommen“. Von zwölf Teilnehmerinnen glauben das zehn. Bei der Arbeit mit Babypuppen käme es immer wieder vor, dass Frauen diese fest im Arm halten und weinen. „Da ist schon ein großer Verlustschmerz. Sie bekommen nie erklärt, was Familiengründung für sie so schwierig macht“, so Sindram. Der Einfluss der Bezugspersonen, vor allem der Mütter und Betreuerinnen, sei besonders groß. „Viele Klientinnen gehen nach einer Beratung in ihr Alltagsleben zurück und kommen beim nächsten Mal mit der gleichen Überzeugung wieder – dass Mutterschaft für sie verboten ist“, sagt Sindram. 

Besonders das Thema Verhütung käme kaum zur Sprache, erklärt Gynäkologin Katharina Hörner, die in ihrer Praxis in Ingolstadt besondere Sprechstunden für Frauen mit Behinderung anbietet. „Einige Eltern sind überfordert, wenn die Periode der Tochter beginnt. Dann ist ein Verhütungsmittel die schnellste und einfachste Lösung“, so Hörner. Das Problem: Viele der Mädchen und Frauen würden die Tragweite nicht verstehen, wenn sie etwas einnehmen müssen. In Einrichtungen hingegen würde man das oft gar nicht erst erklären. „Nicht selten nutzt man dort das Unwissen und die Manipulierbarkeit der Betroffenen aus“, sagt Hörner.

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Dein Körper, unsere Entscheidung?

Verhütung ist eine individuelle Angelegenheit. Grundlage dafür ist, alle Optionen, Risiken und die eigenen Lebensumstände zu kennen. Gerade heute entscheiden sich viele Frauen aufgrund der Nebenwirkungen dagegen. Umso auffälliger ist, dass Frauen mit Behinderungen, die Sindram berät, meist mit der Dreimonatsspritze verhüten, obwohl sie aktuell keinen Freund und keinen Sex haben. Diese Beobachtung bestätigt auch eine 2017 veröffentlichte Studie. Die Ergebnisse zeigen, dass nur 37 Prozent der Frauen mit Beeinträchtigung, die in Einrichtungen lebten, auch sexuell aktiv sind, allerdings 51 Prozent Kontrazeptiva einnehmen, 34 Prozent davon bekommen die Dreimonatsspritze. Zum Vergleich: nur ein Prozent aller deutschen Frauen, die verhüten, greift auf diese Methode zurück – unter anderem, weil die Spritze zu Knochenschwund führen kann und das Depressionsrisiko erhöht. 

Die Spritze ist schnell injiziert, billig, gilt als sicher, die Blutung bleibt aus. „Überspitzt – eine Erleichterung für die Verantwortlichen“, so Sindram. In manchen Wohneinrichtungen sei sie sogar eine Voraussetzung, um aufgenommen zu werden. Doch auch bei Frauen mit geistiger Behinderung kann die Spritze gefährlich sein. „Manche können nicht kommunizieren, wenn sie das Mittel nicht vertragen“, erzählt Sindram. Gynäkologin Hörner geht noch weiter: „Die Spritze darf man bei Frauen unter 18 in der Regel gar nicht verabreichen, nie länger als zwei Jahre am Stück und erst recht nicht, wenn die Betroffenen körperlich eingeschränkt sind“. 

Außerdem würden Verhütungsmittel Fälle sexualisierter Gewalt in Einrichtungen vertuschen – Angriffe, die vor allem Frauen mit Behinderung überproportional häufig erleiden. Laut einer neuen Studie des BMFSFJ hat mehr als ein Viertel der befragten Werkstattbeschäftigten in den letzten drei Jahren sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt, Frauen waren mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer. „Die Übergriffe bleiben dadurch unsichtbar, das ist perfide“, sagt Jennessen.

Nur ein „Schnipp“

Ein Eingriff allerdings löscht die sexuellen Reproduktionsrechte behinderter Frauen nahezu aus: Die Sterilisation. Sie ist das endgültigste aller Verhütungsmittel. Anders als bei Männern lässt sich dieser Eingriff, wenn überhaupt, nur durch eine aufwändige Operation rückgängig machen. Dabei lastet auf diesem Begriff eine dunkle Vergangenheit. So verabschiedeten die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler am 14. Juli 1933 das damals so genannte „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Dabei war die Zwangssterilisation eine Vorstufe der späteren Euthanasiemorde. Fast 400.000 Menschen wurden im Zuge des Gesetzes sterilisiert, knapp 5000 Frauen sind unter diesen Eingriffen verstorben. 

Trotzdem sind in Teilen der EU Zwangssterilisationen weiterhin legal, zum Beispiel in Spanien, Tschechien und Portugal. Nur neun Länder stellen sie unter Strafe. Deutschland ist der Behindertenkonvention der Vereinten Nationen sowie der Istanbul Konvention verpflichtet – damit sind Sterilisationen gegen den erklärten Willen hier offiziell verboten. Seit der Reform des Betreuungsrechts 2023, das mehr Selbstbestimmung bei behinderten Menschen durchsetzen soll, reicht es außerdem nicht, dass eine behinderte Person einer Sterilisation nur nicht widerspricht. Die Person muss ausdrücklich „Ja“ sagen. Wenn jemand nicht einwilligungsfähig ist, muss ein sogenannter Sterilisationsbetreuer der OP unter strengen Auflagen zustimmen. Das Betreuungsgericht muss diese dann noch genehmigen. Doch wie sieht das in der Praxis aus? 

Frauen mit Behinderung sind doppelt so häufig sterilisiert wie Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Der Anteil in der Gruppe geistig behinderter Frauen liegt bei rund 18 Prozent. Besonders sticht heraus, dass Frauen mit einer geistigen Behinderung, die in Einrichtungen leben, öfters sterilisiert sind. Nahezu die Hälfte aller sterilisierten Frauen in Einrichtungen gaben in einer Studienauswertung außerdem an, dass der Arzt oder die Betreuungsperson gesagt habe, sie sollten sich sterilisieren lassen. Oft wird behauptet, der Eingriff sei medizinisch notwendig, weil die Gebärmutter zu klein oder zu groß sei und die Sterilisation als Schutz vor Vergewaltigung diene. „Ob die Betroffenen also freiwillig zustimmen, ist hier anzuzweifeln“, sagt Sindram. 

Sindram erinnert sich auch mehrere Anfragen von Eltern, die eine Sterilisation ihrer Tochter erwogen. Von der Operation habe sie sofort abgeraten, beteuert Sindram – doch sie könne die Beweggründe der Eltern verstehen: „Viele wollen nicht noch ein behindertes Kind großziehen, sie sind überfordert und haben Angst, zu alt zu sein oder finanziell in eine schwierige Situation kommen. Das rechtfertigt dennoch keine Sterilisation“.

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Einige Familien würden sogar ins Ausland fahren, nach Österreich oder in die Schweiz, um einen Weg am Gesetz vorbei zu finden. An einen derartigen Fall erinnert sich Simone Hartmann von pro Familia: „Das sind Menschenrechtsverletzungen, die sichtbar gemacht werden müssen“. Mehrere Frauenkliniken in Österreich und der Schweiz verneinten auf Anfrage des stern, Sterilisationen an deutschen Menschen mit Behinderung durchgeführt zu haben. 

Nicht nur Frauen, sondern auch Männer sind betroffen. So sterilisierte ein Arzt aus Grünwald bei München vor sieben Jahren zwei Männer ohne gerichtliche Zustimmung. In einem Fall handelte es sich um einen damals 17-jährigen Mann mit Autismus und einen 25-Jährigen mit geistiger Behinderung. Beim ersten Fall gab der Arzt an, den Patienten verwechselt zu haben, beim anderen hatte die Mutter eine Einwilligung unterschrieben, dass bei einer Leisten-Operation des Sohnes auch die Samenleiter durchtrennt werden. Der Sohn sei nicht sexuell aktiv gewesen. Der Arzt, der „den Schnipp“ durchführte, wie es der geistig behinderte Mann nach Angaben der eigenen Mutter nannte, gab vergangenes Jahr vor dem Landgericht München an, davon ausgegangen zu sein, dass alles rechtlich in Ordnung gewesen wäre. Die Eltern standen wegen Anstiftung zur schweren Körperverletzung vor Gericht. 

„Die Folgen einer unfreiwilligen Sterilisation sind verheerend“, sagt Sindram. Sie betreut einige ältere Frauen, denen als Jugendliche bei einer angeblichen „Blinddarmoperation“ die Eileiter abgeklemmt oder verödet wurden. Der Schmerz bei diesen Frauen sei auch heute noch sehr groß. Auch eine Studie aus dem Jahr 2020 zeigt, dass zwangssterilisierte Frauen oft unter Depressionen und Angstzuständen leiden. Der europäische Verband Inclusion Europa berichtet, dass Betroffene ihre Sterilisation als „lebenslange Freiheitsstrafe, Verlust und Verrat“ bezeichnen. 

„Wer zwangssterilisiert wird, verliert sein Recht als Frau oder Mann, als Mutter oder Vater und letztendlich als Mensch“, sagt Sindram. Das Europaparlament drängt nun auf ein EU-weites Verbot der Praxis. Geplant war ein Gesetzesbeschluss vor der Europawahl – bisher hat sich nichts getan. Sindram, Jennessen und Hartmann sagen zwar, das sei ein Schritt in die richtige Richtung, bezweifeln aber, dass sich dadurch wirklich etwas ändert. Selbst dann würde man weiterhin Ausnahmen bei Menschen machen, die ihre Meinung nicht äußern könnten. 

Jugendamt: Behinderte können keine Eltern sein

Wenn Menschen mit Behinderung dann trotz aller Widrigkeiten ein Kind bekommen, warten ganz andere Herausforderungen auf sie. Viele kommen erst gar nicht dazu, ihre Rolle als Mutter oder Vater anzunehmen. Das zeigen mehrere Fälle in Süddeutschland. 

Lenny ist seit mehreren Jahren mit seiner Partnerin Nele zusammen (beide Namen geändert). Er ist 24, sie 25 Jahre alt. Sie wohnen im bayrischen Freising in einer eigenen Wohnung, in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung. Ihren Alltag meistern sie weitgehend allein. Beide arbeiten in einer Behindertenwerkstatt, haben ein festes Einkommen. Gemeinsam beschließen sie, ein Kind zu bekommen. Lennys Mutter verspricht, ihnen dabei zu helfen, es großzuziehen. Alles läuft nach Plan – beide können es kaum erwarten, Eltern zu werden. Sie haben sich bereits einen Namen ausgesucht, Babyklamotten gekauft und das Kinderzimmer eingerichtet. Doch drei Tage nach der Geburt wird Lenny und Nele ihr Sohn Toni (Name geändert) vom Jugendamt weggenommen und zu einer Pflegefamilie nach Augsburg gebracht. Ihren Kleinen dürfen sie nur alle zwei Wochen sehen. Begründung des Amts: Lenny und Nele, zwei behinderte Eltern, könnten ihrem Kind kein gutes Leben garantieren. 

Das ist einer von drei Vorfällen, die dem gesetzlichen Betreuer Georg Werther allein im vergangenen Jahr begegnet sind. Alle drei Elternpaare haben ihre Kinder aufgrund ihrer geistigen Behinderung verloren.

Gute Eltern. Was bedeutet das überhaupt? Und wer garantiert, dass Menschen ohne Behinderung gute Eltern werden? Geht es darum, bestimmte Werte oder ein bestimmtes Maß an Intelligenz weiterzugeben? Oder letztendlich, dass Kinder sich geliebt fühlen? „Es gibt mehr als genug (Spaß-)Väter auf der Welt, die ihre Kinder nur alle paar Wochen sehen oder Eltern, die eine Suchterkrankung haben oder gewalttätig sind. Da werden die Kinder auch nicht sofort einkassiert“, sagt Sindram. „Natürlich ist es fachlich richtig und im Sinne der Betroffenen, nicht immer zu sagen ‚macht mal und wir schauen, ob es funktioniert`“, ergänzt Hartmann. Doch Eltern mit Behinderung würde man nicht mal eine Chance geben. 

Geistig behinderte Menschen, die ein selbstbestimmtes Leben führen. Die Sex haben, ihre eigene Verhütung auswählen, Kinder bekommen, Eltern sind – für viele bleibt das unerreichbar. Denn das Schweigen darüber ist weiterhin groß. Das zeigte sich auch bei der Suche nach Gesprächspartnerinnen für diesen Text. Fast alle Experten kannten Betroffene, in Online-Foren und per Mail meldeten sich einzelne Personen, die in Behinderteneinrichtungen arbeiten oder wohnen, die jemanden kennen oder selbst betroffen sind – doch niemand wollte sprechen. Aus Scham, verurteilt zu werden und aus Angst vor den Konsequenzen. Dabei sollten gerade diese Themen für jeden Menschen das natürlichste und selbstverständlichste der Welt sein. 

Sind Sie gegen Ihren Willen sterilisiert worden? Dürfen Sie nicht frei über ihre Sexualität oder Verhütungsmittel entscheiden? Wenn Sie dazu etwas sagen mögen, schreiben Sie uns gern an: [email protected] Wir behandeln jede Nachricht vertraulich und veröffentlichen niemals etwas ohne Ihre Zustimmung.