Vor 70 Jahren beschließt der Bundestag, Familien finanziell zu unterstützen. Das Kindergeld geht jedoch ausgerechnet der SPD gegen den Strich – und es hat Vorläufer in der NS-Zeit.

Vor 70 Jahren beschließt der Bundestag, Familien finanziell zu unterstützen. Das Kindergeld geht jedoch ausgerechnet der SPD gegen den Strich – und es hat Vorläufer in der NS-Zeit.

Anfang der 1950er-Jahre taucht die Bundesrepublik Deutschland in goldene Zeiten ein. Vor allem dank Marshallplan und Währungsreform wächst die Wirtschaft rasant, Bauern tauschen ihre Pferdegespanne gegen Traktoren, in immer mehr Haushalten kommen Waschmaschinen und Fernseher an die Steckdosen und sonntags ein Braten auf den Tisch, Autos erobern die Straße. 

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Mit dem neuen Wohlstand erfasst ein Babyboom die junge deutsche Demokratie, die Geburtenzahlen steigen deutlich an. Rufe nach finanziellen Hilfen für Eltern werden daher immer lauter, die Politik muss sich Gedanken machen, was das Versprechen von Artikel 6 des Grundgesetzes im Konkreten heißen soll: „Ehe und Familie stehen unter besonderem Schutze des Staates.“   

Arbeitende Mütter? Will der Familienminister verhindern

1953 nimmt in der Bundeshauptstadt Bonn das erste eigenständige „Ministerium für Familienfragen“ die Arbeit auf. An seiner Spitze steht der erzkatholische CDU-Politiker Franz-Josef Wuermeling, selbst Vater von fünf Kindern, der sich während seiner neunjährigen Amtszeit in der Ära Adenauer vehement für kinderreiche Familien stark macht – und in einer Broschüre seines Ministeriums den Platz der Frauen darin unmissverständlich definiert: „Mutterglück ist stets vom Anfang an nicht nur mit großer Verantwortung, sondern auch mit stetem Verzicht verbunden. Diese Gabe und Aufgabe der Selbsthingabe und Selbstverleugnung um höherer Ziele willen ist es auch, die die Mutter zur verständnisvollen Lebensbegleiterin des Mannes und Vaters und zum Herzen der Familie werden lässt“. 

Berufstätige Mütter sind dem Minister ein Graus; sie passen ebenso wenig in das damals vorherrschende Familienideal wie uneheliche Kinder, unverheiratete Paare und gleichgeschlechtliche Beziehungen.

Der Politiker Franz-Josef Wuermeling zieht 1949 für die CDU in den ersten Bundestag ein. Dort setzt er sich vehement für eine familienfreundlichere Politik ein. Dieses Bild zeigt den ersten bundesdeutschen „Minister für Familienfragen“ bei einer Parlamentsdebatte am 28. Oktober 1960, in der es, wieder einmal, um das rund 15 Jahre zuvor eingeführte Kindergeld geht
© Kurt Rohwedder / dpa

Wuermeling macht sich neben mehr Steuergerechtigkeit für Familien die Einführung eines Kindergeldes zum Ziel – weniger, um soziale Not zu lindern, für die er weiter Sozialfürsorge und Volkswohlfahrt zuständig sieht, sondern um die Geburtenrate zu steigern und Frauen davon abzuhalten, erwerbstätig zu werden.  

Und es ist keine neue Idee, auf die er da kommt: Bereits in der Weimarer Verfassung war die Forderung nach finanzieller Unterstützung von Familien verankert, die dann von den Nationalsozialisten erstmals umgesetzt wurde: Der NS-Staat zahlte ab 1935 eine „Kinderbeihilfe“, die Arbeiter und Angestellte ab dem fünften, später ab dem dritten Kind erhielten – sofern sie ein bestimmtes Einkommen nicht überschritten und als „arisch“ galten. 

Als der von Wuermeling vorangetriebene Gesetzesentwurf der CDU/CSU-Fraktion für ein Kindergeld am 14. Oktober 1954 zur Abstimmung auf der Tagesordnung des Bundestages steht, entbrennt eine heftige Debatte. SPD-Abgeordnete etwa fordern eine Finanzierung durch die Steuerzahler, empören sich über den vorgesehenen, in ihren Augen zu niedrigen Betrag.  

Die CDU/CSU-Fraktion kann, im Besitz einer absoluten Mehrheit, ihr Gesetz jedoch in einer Kampfabstimmung gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen durchsetzen: Ab dem 1. Januar 1955 erhalten Familien monatlich 25 D-Mark für das dritte und jedes weitere Kind – finanziert durch Beiträge von Arbeitergebern und Selbstständigen und ausgezahlt über die neu eingerichteten Familienausgleichskassen. 

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Kein Kindergeld für Arbeitslose

Für einen durchschnittlichen Arbeiterhaushalt bedeutet das Kindergeld de facto eine Lohnerhöhung von rund 6,5 Prozent. Wer hingegen arbeitslos ist, geht leer aus – wogegen sich derart starke Kritik regt, dass die Bundesregierung diese Regelung noch 1955 anpasst.

Etliche Änderungen und Ergänzungen zum ersten Kindergeldgesetz lassen den Kreis der Bezugsberechtigten in den folgenden Jahrzehnten weiter wachsen. So erhalten Familien ab 1961 auch für das zweite Kind, und ab 1975, als die Hilfe bereits vollständig aus dem Bundeshaushalt bestritten wird, für jedes Kind Unterstützung. Der Betrag bleibt dabei für Dritt- und Viertgeborene stets höher als für die ersten beiden Kinder – bis 2023 eine Angleichung erfolgt: Seither zahlt der deutsche Staat Eltern pro Kind 250 Euro pro Monat.

Ab 1957 lässt die Deutsche Bundesbahn Mädchen und Jungen aus kinderreichen Familien zum halben Preis mitfahren. Der entsprechende Ausweis geht auf eine Initiative des ersten Familienministers Franz-Josef Wuermelings zurück
© JuTe CLZ / wikimedia commons

Der Mann aber, der das Kindergeld vor 70 Jahren als erster westdeutscher Familienminister auf den Weg brachte, hat sich durch eine andere Leistung einen Platz im kollektiven Gedächtnis der BRD erobert: Franz-Josef Wuermeling lässt 1957 einen Berechtigungsschein einführen, der Jungen und Mädchen mit mindestens zwei Geschwistern das Bahnfahren zum halben Preis ermöglicht. Der beliebte Ausweis wird als „Würmeling“ oder auch „Karnickelpass“ bekannt und steckt über Jahrzehnte im Reisegepäck kinderreicher Familien. 

Seine eigentlichen Ziele aber verfehlt Wuermeling auf längere Sicht: Trotz Kindergelds sinkt die Geburtenrate in der BRD ab Mitte der 1960er-Jahre rasant. Und immer mehr Mütter schicken ihren Nachwuchs in den Kindergarten – um arbeiten zu gehen.