"Dis" ist die lateinische Supersilbe, die alle möglichen "Diskrepanzen" erzeugt und ohne die es die deutschen "Discounter" nicht gäbe. Bemerkenswert ist vor allem ihre Solokarriere: als internationaler Ausdruck der Verachtung.

„Dis“ ist die lateinische Supersilbe, die alle möglichen „Diskrepanzen“ erzeugt und ohne die es die deutschen „Discounter“ nicht gäbe. Bemerkenswert ist vor allem ihre Solokarriere: als internationaler Ausdruck der Verachtung.

Wo soll man anfangen, wenn man drei Buchstaben vor sich hat, die aus dem Lateinischen und damit aus dem Altertum stammen? Seit mehr als 2000 Jahren prägt die Silbe „dis-“ viele Sprachen Europas. Genau genommen wird auf die eine oder andere Art ständig irgendetwas „gedisst“. Denken Sie an Menschen, die andere „diskreditieren“. Oder daran, dass „discussio“ einmal eine erdbebenartige Erschütterung war. Auf der langen Suche nach der Vernunft begannen die Menschen irgendwann, Standpunkte zu erschüttern. Diese Methode spiegelt sich bis heute in den Auseinandersetzungen jeder „Diskussion“.Peter Littger ist DER WORDSPLAINER. Der Journalist und Buchautor schrieb den Nummer 1 Bestseller „The Devil lies in the Detail – Lustiges und Lehrreiches über unsere Lieblingsfremdsprache“. Zuletzt erschien von ihm „Hello in the Round! Der Trouble mit unserem Englisch und wie man ihn shootet“.
© Max Lautenschläger

Um zu einer allgemeingültigen Erklärung für „dis-“ zu gelangen – was im Lateinischen ursprünglich eine „Entzweiung“ bezeichnete und den Weg frei machte für „Distinktion“ und „Distribution“ –, lohnt die Betrachtung des viel bemühten Begriffs der „Disruption“. Am Rande sei bemerkt, dass ihn er der Kolumnist für „Latenglisch“ hält: Liegt der Ursprung ohne Zweifel im lateinischen Verb „disrumpere“, erscheint das Buzzword der Managerkaste vielen wie ein Import aus dem Englischen – sogar der Redaktion des Duden! Während Disruption Prozesse der Veränderung und der Auflösung in der realen Welt beschreibt, entfaltet die Vorsilbe „dis“ – Linguisten sprechen von einem „Präfix“ – eine ähnliche Zerstörungskraft im Wortschatz. Recht passend könnte man von einer „Diskrepanz“ sprechen: durch mangelnde Übereinstimmung, durch das Gegenteil oder gar durch die Verneinung von Wörtern: „Disharmonie“, „Diskontinuität“, „Disqualifikation“. In der englischen Sprache: „disability“, „disbelief“, „dismantle“.

„Diss“ ist die Abkürzung von „disrespect“

Wer nun in der weitestgehend englischsprachigen Gegenwart „dis“ oder „diss“ sagt – oder dasselbe beklagt – bedient sich der Abkürzung des Wortes „disrespect“. Es beschreibt den Akt der Geringschätzung (als Verb) oder eine handfeste Beleidigung (als Substantiv). Den ersten Eintrag notiert das Oxford English Dictionary für das Jahr 1980. Dem Autor der Los Angeles Times schien 1986 noch eine Erklärung notwendig zu sein: „Point an accusing finger at the Long Beach Police Department for not doing its job and stop the ‚dis‘ (disrespect) on rap music for once and for all.“anglizismen-bullshit 1600

„Dissing“ als Schmähung ist also ein relativ neuer Ausdruck. War es zunächst ein Phänomen in der afro-amerikanischen Rap-Szene, ist es heute überall anzutreffen: zwischen Jungen und Alten. Unternehmen und ihren Kritikern. Politikern und ihren Feinden. Und das alles auch umgekehrt. Ob das Wörtchen mehr ist als eine sprachliche Mode? Dem Wortursprung nach könnte die Solokarriere der Supersilbe einer uralten Vorbestimmung folgen: Menschen mit drei Buchstaben zu entzweien.

Aldi und Lidl sind als „the discounters“ bekannt

Fest steht unterdessen, dass es andere Moden – und Soloauftritte – gab: Im 19. Jahrhundert zum Beispiel kam „dis“ als Kurzform von „distribute“ auf. Es war ein Slang der Drucker für die Verteilung von Lettern im Satz. Bald entwickelte sich „dis“, um „disconnected“ zu sagen, ein Trendwort der Telegrafensprache. Laut OED bedeutete es in den 1920er Jahren „kaputt“ und „geistesschwach“: „The circuit is dis.“; „Her telephone line is dis.“; „The poor old chap‘s brain‘s going dis.“ Darüber hinaus nennt das amerikanische Wörterbuch Merriam Webster drei gängige Abkürzungen: für „discharge“, „distance“ und „discount“. Mit letzterem – dem preislichen Abzug, also einem Rabatt – kennt sich ein deutsches Handelsunternehmen so gut aus, dass es ihn seit 1962 im Namen führt: „Albrecht Diskont“. Im Laufe der allgemeinen Anglisierung erwuchsen die „Discounter„. Aldi und Lidl haben diese Bezeichnung mitgenommen auf ihre internationale Expansion, so dass sie mit ihren vielen tausenden Geschäften in aller Welt als „the discounters“ bekannt sind, nicht zuletzt in Großbritannien. Noch zu Beginn des Jahrtausends hießen solche Geschäfte im englischen Sprachraum „discount (grocery) shops“ oder „stores“. Der Lebensmittelmarkt als „Discounter“ ist unterdessen bestes „English made in Germany“.

Während der Duden das „Discountgeschäft“ und den „Discountpreis“ schon seit 1967 führt, erhielt der „Discounter“ als „Geschäft, in dem Waren mit hohen Rabatten verkauft werden“ erst 2000 einen Eintrag. Es war dasselbe Jahr, in dem „dissen“ als Verb aufgenommen wurde, für „beschimpfen“, „diskreditieren“, „schmähen“ oder „polemisieren“. Auch führt das Wörterbuch das „Diss-Opfer“ – aber  noch nicht „den Diss“. Vielleicht wäre das einfach zu viel Konkurrenz für die gute alte „Diss“. Sie beschäftigt die Menschen weiterhin in akademischen Kreisen.