Der erste Kapitän mit Migrationshintergrund verlässt die Nationalmannschaft. Julian Nagelsmann verliert einen Spieler, den er nicht so schnell ersetzen kann.

Der erste Kapitän mit Migrationshintergrund verlässt die Nationalmannschaft. Julian Nagelsmann verliert einen Spieler, den er nicht so schnell ersetzen kann.

Der Abschied İlkay Gündoğans aus der Nationalmannschaft ist ein Verlust für den deutschen Fußball – aber nicht nur das. Bundestrainer Julian Nagelsmann verliert einen zentralen Mittelfeldspieler, aber auch eine ungewöhnliche Persönlichkeit jenseits des Platzes. Das Team verliert seinen Kapitän, aber auch ein gesellschaftliches Vorbild. 

Beginnen wir mit dem Fußballerischen. Das 1:0 der Nationalmannschaft im EM-Spiel gegen Ungarn war eine Szene, die Gündoğans Karriere im DFB-Team gut zusammenfasst. Der Ball scheint schon weg zu sein, aber der Mann mit der Nummer 21 geht nochmal hinterher, setzt seinen Körper ein, stochert mit dem Fuß und spielt schließlich den perfekten Pass auf Jamal Musiala. Nie aufgeben war typisch für Gündoğans Zeit in der Nationalmannschaft, die 2011 begann. 82 Spiele, das klingt nur nach Kontinuität. Doch musste Gündoğan immer wieder Rückschläge hinnehmen, Verletzungen. Den WM-Titel 2014 verpasste er.

İlkay Gündoğan ist ein Mannschaftsspieler im besten Sinne

Jürgen Klopp, Gündoğans Trainer bei Borussia Dortmund, hat dem stern einmal über Gündoğan gesagt: „Sein Tempo, seine Technik, besonders die Orientierung im Raum, das war überragend.“ Gündoğan kann spektakuläre Pässe spielen, aber vieles, was ihn ausmacht, ist eher unauffällig. So öffnet er mit seinen Läufen oft auch Freiräume für andere. Über sein Zusammenspiel mit Jamal Musiala und Florian Wirtz sagte er schon vor der EM, gerade weil er der Erfahrene sei, müsse er sein Spiel an das der Jungen anpassen, nicht umgekehrt. Ein Mannschaftsspieler im besten Sinne. Hansi Flick machte ihn zum Kapitän, Nagelsmann übernahm ihn. Die richtige Entscheidung.

Gündoğan geht in die deutsche Fußball-Geschichte ein als erster Mannschaftskapitän mit Migrationshintergrund. Auch das klingt selbstverständlicher, als es war. Gündoğan ist ein Vorbild für gelungene Integration, aber auch, weil gerade seine Karriere zeigt, wie viel Integration einem jungen Menschen abverlangen kann.

Ein Foto mit Erdogan wird zur Staatsaffäre

Der Sohn türkischer Eltern aus Gelsenkirchen mit deutschem Pass entschied sich früh gegen das Werben des türkischen Fußballverbandes und für das DFB-Team. Dafür wurde er von türkischen Fans heftig beschimpft. 2018 dann, kurz vor der Weltmeisterschaft in Russland ließen sich Gündoğan und sein Nationalmannschaftskollege Mesut Özil mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan fotografieren. Nun hagelte es Kritik von deutscher Seite. Das Foto wurde den beiden Fußballern nicht nur als Wahlkampfhilfe für Erdogan ausgelegt, sondern auch als Ausweis für mangelnden deutschen Patriotismus. Die Angelegenheit entwickelte sich zur Staatsaffäre, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lud Gündoğan und Özil zu einer Art Integrationsgipfel ins Schloss Bellevue.

Özils Verhältnis zu Deutschland hat sich von dieser Geschichte nicht mehr erholt, wozu er selbst einiges beitrug, aber auch deutsche Fußballfunktionäre und Teile der Medien. Gündoğan, den Leute, die ihn kennen, oft als reflektiert beschreiben, kam durch. Es bleibt eine Ironie der Geschichte, dass der Spieler mit türkischen Wurzeln, der 2014 Weltmeister wurde, Deutschland schließlich den Rücken kehrte – und der andere es bis zum Kapitän der Nationalmannschaft brachte, aber nie mit ihr einen Titel gewann.

STERN PAID 25_24 Gündogan 12:24

Julian Nagelsmann steht nun vor einem großen Problem. Ohne Toni Kroos und İlkay Gündoğan klafft im zentralen Mittelfeld ein großes Loch – und zwar hinten und vorne. Zudem fehlt es an erfahrenen Führungsspielern. Das wird sich bis zur Weltmeisterschaft 2026 kaum beheben lassen, der Bundestrainer ist gezwungen, auf eine neue Generation zu setzen – und als einer, der selbst der jüngste Teamchef aller Zeiten wurde, ist er vielleicht genau der richtige Mann dafür.

Mit Gündoğan fehlt dem Nationalteam künftig aber auch ein Spieler, der weiß, welche Anfechtungen jenseits des Spielfelds lauern können, kurz: ein Mann mit Lebenserfahrung, auch wenn er erst 33 ist. Julian Nagelsmann hat Gündoğan gewürdigt als Fußballer, der Pässe „mit einer Botschaft“ gespielt habe. Das aber gilt eigentlich für die ganze Karriere des deutschen Nationalspielers İlkay Gündoğan.