Für manche Ärzte gehören Beschimpfungen, Beleidigungen, Drohungen, Tritte und Schläge zum Alltag. Vor allem betroffen: Frauen, die als medizinische Fachkräfte arbeiten.
Die Praxis von Dr. Wolfgang Kreischer liegt im bürgerlichen Berlin-Zehlendorf, seine Patienten, sagt der Hausarzt, seien eher „ruhig und stabil“. Wenn es Stress gebe, dann ginge der eher von Menschen aus, die sich in besonders schwierigen sozialen Umständen befänden. Kreischer behandelt Drogenabhängige mit Ersatzmitteln. „Kürzlich kam ein junger Ukrainer, der substituiert werden wollte“, sagt Kreischer.
Doch so einfach geht das nicht, die Therapie muss angemeldet und genehmigt werden. „Als ich ihm sagte, dass ich ihn nicht behandeln könne, drohte er damit, sich den Hals aufzuschneiden und uns alle anzustecken, er habe Tuberkulose.“ Kreischer und sein Team riefen die Polizei. Zum Glück kämen solche Situationen nur selten vor, sagt Kreischer, der 14 Jahre lang Vorsitzender des Hausärzteverbandes Berlin/Brandenburg war.
Artikel Karte Ärztedichte 6:01
„Ich habe Freunde bei der Russenmafia, die fackeln dir deine Praxis ab“
Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung hat kürzlich in einem Interview das gestiegene Gewalt-Potenzial in deutschen Arztpraxen beklagt. Er selbst habe es schon erlebt, dass ein Patient ihm die Tür eingetreten habe. Genaue Zahlen gibt es allerdings nicht. In den Kriminalstatistiken werden Angriffe auf medizinisches Personal nicht eigens ausgewiesen. Die Kassenärztliche Vereinigung Bremen fragte ihre Mitglieder zwischen Mai und Juli 2024, ob sie Gewalt erlebten. Und erhielt erschütternde Mails.
So schreibt der Urologe Dr. Volker Braun: „Ein Patient, Ende 50, ehemaliger Bodybuilder und Boxer, erschien mit seiner Frau in der Praxis. Der Patient war schon Jahre zuvor (seinerzeit im Rollstuhl) einmalig in der Praxis gewesen und hatte sich lautstark darüber beschwert, dass ich ihm keine Potenzmittel auf ein Kassenrezept verschreiben durfte. Wir baten die Frau, sich während der Wartezeit außerhalb der Praxisräumlichkeiten aufzuhalten, sie könne aber bei der Untersuchung dabei sein. Als ich ins Untersuchungszimmer kam, (…) verbot der Patient mir höchst aggressiv, mit seiner Frau zu sprechen, er würde bestimmen, wie es hier ‚laufen solle‘. Als ich ihm sagte, dass er mir kaum in meiner eigenen Praxis den Mund verbieten dürfte, eskalierte seine ‚Ansprache‘. Ich teilte ihm mit, dass ich ihn nicht weiter behandeln würde, forderte ihn auf, die Praxis zu verlassen und verließ den Untersuchungsraum.“
Dr. Braun berichtet weiter: „Völlig unvermittelt stürmte mir der angeblich gehbehinderte Patient (ohne seinen Gehwagen) nach und baute sich wenige Zentimeter mit erhobenen und geballten Fäusten vor mir auf. Ich forderte ihn auf, zurückzutreten und umgehend die Praxis zu verlassen. Erst, als ich mit der Polizei drohte, (…) trat er zurück und sagte laut hörbar: ‚Ich habe Freunde bei der Russenmafia, die fackeln dir deine Praxis ab‘. Bevor die Polizei eintraf, hatte der Patient die Praxis schimpfend verlassen. Ich habe bei der Polizei Anzeige erstattet.”
Spucken, kneifen, schimpfen
Die Ärztin Annegret Kröhn-Wellhausen berichtet: „Ein Vater tauchte mit seinem fiebernden Kind in der Praxis auf, verlangte lautstark nach Bedienung und einem Antibiotikum, das ich zwei Tage zuvor nicht verordnet hatte, da es sich offensichtlich um einen Virusinfekt handelte. Er verlangte, von meiner Kollegin behandelt zu werden. Als ich selbst dann den Raum betrat, um das Kind zu untersuchen – und ihm beschied, er könne es sich nicht aussuchen, wenn er ohne Termin hier erschiene – protestierte er lautstark, trat auf mich zu und schubste mich weg. (…) Lustiger Nebeneffekt: Der Polizist, den ich gerufen hatte, erklärte mir dann, wenn es nicht weh getan habe, sei es keine Straftat. Er erlebe Schlimmeres in seinem Dienst.“
Interview Boris von Heesen 14.46
Eine andere Ärztin, die anonym bleiben möchte, schildert, wie eine Mutter mit einer älteren Dame, offenbar der Großmutter, mit einem einjährigen Kind zur Untersuchung kam. „Das Kind sah ‚fit‘ aus. Es stellte sich heraus, dass die Mutter nicht krankenversichert ist. Sie willigte zwar ein, die Behandlung privat zu zahlen, sagte dann aber, dass sie kein Geld dabei habe. Ich bat die Mutter, wiederzukommen, wenn sie Karte oder Geld hat – es handelt sich nicht um einen Notfall. Die Mutter rastet aus, beschimpft mich mit den Worten: „Ich werde dich totmachen“, spuckte und kniff, sodass ich blaue Flecken bekam. Mein Praxispersonal hatte den Vorfall mitbekommen, gemeinsam wurde die Angreiferin aus der Praxis gedrängt. Ich rief bei der Polizei an. Beim Eintreffen der Beamten stand die Mutter noch draußen vor der Praxis. Von der Polizei bekam die Frau dann eine „Gefährdungsansage“. Ich als Ärztin hatte selbst selten Personen, die gewalttägig sind – meine MFA (medizinische Fachangestellte) und andere Ärzte der Praxis hingegen häufig.”
Ärzte beklagen mehr Egoismus, weniger Respekt der Patienten
Seit der Corona-Pandemie, so berichten viele Ärzte, hätten Egoismus, Respektlosigkeit und Aggression deutlich zugenommen. Die gesellschaftliche Polarisierung erreichte auch die Praxen, Impfgegner und Coronaleugner beschimpften und bedrohten Mediziner, andere drängelten sich rücksichtslos vor, um möglichst schnell an eine Impfung heranzukommen. Auch an Empathie mangele es. „Es gab Situationen, wo wir einen Notfall in der Praxis hatten und einem Patienten auf dem Boden Zugänge legen mussten. Da drängte sich tatsächlich ein anderer Patient dazwischen und verlangte, dass wir ihm ein Rezept ausstellen“, sagt Regina Mayer-Berger, Hausärztin aus Kaierslautern in einem Interview mit der „Südwestpresse“.
Vor allem die rund 340.000 medizinischen und 200.000 zahnmedizinischen Fachangestellten sind den wachsenden Spannungen schutzlos ausgesetzt. Früher nannte man sie Arzthelferinnen. 99 Prozent von ihnen sind Frauen. Sie haben keinerlei Einfluss auf die Entscheidungen, die Politiker in Berlin treffen, wenn etwa das Budget für die Behandlung von Parodontitis gekürzt wird, aber sie stehen an vorderster „Front“, wenn frustrierte Patienten die Nerven verlieren. „Der Mangel im Gesundheitssystem ist ein Grund für die zunehmende Aggressivität in Praxen“, sagt Hannelore König, Chefin des Verbandes medizinischer Fachberufe.
Sie kritisiert, dass Bundeskanzler Olaf Scholz und Gesundheitsminister Karl Lauterbach den Eindruck erweckten, als würde es keine Kürzungen bei Leistungen geben. „Tatsächlich ist aber nur eine ‚ausreichende‘ Versorgung gesetzlich festgeschrieben“; sagt König. Den Widerspruch zwischen guter und ausreichender Versorgung spüren Patienten und die Hemmschwelle, den Ärger an den MFAs auszulassen sei niedrig. In einer Umfrage des Verbandes 2023 gaben mehr als 30 Prozent der MFAs an, häufig oder mehrfach Gewalt erlebt zu haben. Dazu gehörten Schlagen, Treten, Stoßen oder Beißen; verbale Gewalt wie Bedrohungen, Beleidigungen oder Anschreien sowie sexuelle Belästigung.
Der Ärger wird an Frauen ausgelassen
Julia Schierenbeck, Ärztin aus Bremerhaven, schreibt: „Es gibt Tage, da haben unsere MFAs Angst, in die Praxis zu gehen, da sie befürchten müssen, wieder in verbale Auseinandersetzungen zu geraten. Auch ich habe zunehmend das Gefühl, nur noch Wunscherfüller zu sein, und wird dieser nicht durchgeführt, werde auch ich persönlich beschimpft. Zunehmend habe ich auch den Eindruck, dass der Respekt vor Frauen – egal ob Ärztin oder MFA – schwindet. Ich bin mit meinem Mann in einer Gemeinschaftspraxis niedergelassen. Er wird so gut wie nie beschimpft und seine Kompetenz wird nicht in Frage gestellt. Wir haben dieses Jahr bereits mehreren Patienten Hausverbot erteilt und sie der Praxis verwiesen.“
Kritik an Justizminister Marco Buschmann
König fordert, das Problem systematisch anzugehen. Durch bessere Aufklärung, Präventionsmaßnahmen wie Deeskalationstrainings, Selbstverteidigung, das konsequente Melden der Fälle bei den Berufsgenossenschaften. Aber auch durch einen stärkeren rechtlichen Schutz. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat bereits einen Gesetzentwurf für Rettungskräften und Polizisten vorgelegt, um diese Berufsgruppen vor Beleidigungen, Anfeindungen und Angriffen zu schützen. Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeuten und die MFAs werden jedoch ausgeklammert.
Die Chefs der Kassenärztlichen Vereinigung Bremen, Bernhard Rochell und Peter Kurt Josenhans, kritisieren das: „Wir sind bestürzt, dass die Praxen bei der jetzt geplanten Verschärfung im Strafgesetzbuch nicht berücksichtigt werden. Wir fordern Bundesjustizminister Marco Buschmann auf, Ärzte, Psychotherapeuten und ihre Mitarbeiter explizit in den Gesetzesentwurf aufzunehmen und ihnen ebenfalls strafrechtlichen Schutz bei der Ausübung ihrer Tätigkeit zukommen zu lassen.“
Die Mühlen der Politik mahlen bekanntlich langsam. Die Hausärztin Regina Mayer-Berger hat derweil selbst die Initiative ergriffen. Auf ihrer Homepage schreibt sie: „Aus aktuellem Anlass möchte ich darum bitten, dass meine Mitarbeiter/innen mit Höflichkeit und Respekt behandelt werden. Wer sich nicht an die Regeln sozialen Umgangs halten will oder kann, wird im Rahmen des Hausrechts aus der Praxis verwiesen.“